Hallo Leute,
ich habe mich schon einmal in diesem (oder einem anderen Forum) angemeldet. Ich weiß aber meine Zugangsdaten nicht mehr und habe mich daher neu registriert.
Vielleicht kann ich mit dem, was ich schreibe, einigen Leuten Mut machen und darüberhinaus Denkanstöße (für Theapeuten und Betroffene) geben:
Ich habe als junger Mensch (vom Kindergarten-Alter bis ins Studium hinein) stark unter meinem Stottern gelitten. Ich habe es jahrlang nie gelernt, das einfach zu akzeptieren und trotz des Stottern selbstbewusst bzw. selbstsicher aufzutreten. Ich habe eigentlich immer für das Stottern geschämt.
Nach einem jahrelangem Auf und Ab habe ich letztendlich mein Lehramts-Studium beendet und arbeite nun seit 2 Monaten als Lehrer im Vorbereitungsdienst. Vor den Schülern habe ich bisher noch nicht gestottert. Nur bei Vorstellungsrunden im Kollegium und im Seminar bin ich mal leicht hängengeblieben oder habe "um den heißen Brei" herumgeredet. Das ist aber alles nicht so dramatisch, so dass ich mittlerweile die Angst vor dem Stottern (und damit das Stottern an sich) kein großes Problem mehr darstellt.
Meine Geschichte:
Das Stottern trat bei mir irgendwann in der Kindheit auf. Man erzählte mir, dass das in der Weihnachtszeit gewesen sei und man mir erzählte, der Weihnachtsmann komme gleich. Eigentlich gab es bei uns zuhause nie diesen "Weihnachtsmann-Glauben", aber vielleicht hat mich die Frage über die Existenz des Weihnachtsmannes psychisch sehr bewegt... oder der Ausschlaggrund lag doch ganz woanders.
Ich habe dann während meiner Kindergarten- und Grundschulzeit gestottert, aber das störte mich nicht. In meinen Zeugnissen steht, dass ich trotz des Stotterns sehr aktiv am Unterricht teilnahm und gerne vorlas.
Als ich dann auf das Gymnasium ging und die Pubertät langsam anfing, änderte sich dies dramatisch. Fast die gesamte Pubertätszeit waren mündliche Beiträge in der Schule für mich mit Angst und Blamagen verbunden. Die Deutsch-Hausaufgaben machte ich irgendwann gar nicht mehr, weil ich sie ja hätte vorlesen müssen, um sie zu präsentieren. Ich wartete immer auf Momente, in denen die "Gefahr zu Stottern" gering war. Deshalb habe ich mich nur selten gemeldet, wurde immer frustrierter und zog mich mehr und mehr zurück.
Mein persönlicher "Niedergang" lässt sich mit einer Kausalkette darstellen:
Erst war ich ein fröhliches, aktive und beliebtes Kind. -> Irgendwann fanden Gleichaltrige mit "komisch", "uncool" oder sonst wie, weil ich stotterte. -> Ich wurde schüchtern und schwieg immer mehr. -> Ich wurde noch uncooler und die schulischen Leistungen sanken. -> Ich schwieg noch mehr, kapselte mich von den Gleichaltrigen ab und hatte überhaupt keine Lernmotivation mehr.
Am Ende der 9. Klasse hatte ich sechs 5en im Zeugnis. Meine Eltern drängten darauf, dass ich nun auf die Realschule wechseln sollte. Ich stimmte zu und wiederholte dort die Klasse.
Dies war ein willkommener Neuanfang für mich. Das Stottern war am Anfang zwar besonders stark, weil ich in der Position des "Neuen" sehr schüchtern war, aber ich lernte neue Freunde kennen und gewann Abstand von der Zeit auf dem Gymnasium, die mir aufgrund meines Abstiegs eines fröhlichen KIndes zu einem deprimierten Außenseiter noch heute in schmerzhafter Erinnerung ist. Ich habe da viel verdrängt. Teilweise kann ich mich an die Grundschule besser als an das Gymnasium erinnern.
Während meiner Zeit auf der Realschule nahm ich an einer Stotterer-Therapie des Greifenhofer-Instituts in Paderborn teil. Danach war ich erstmal komplett stotterfrei. Leider fing es bei mir (wie bei einigen anderen Teilnehmern auch) irgendwann wieder an. Das Problem war also nicht aus der Welt, aber die Therapie hat mir doch so viel gebracht, dass ich weiß, ich kann auch flüssig sprechen und dass ich im Notfall immer auf die Atemtechnik zurückgreifen kann.
Nach der Realschule besuchte ich das Fachgymnasium und holte dort das Abitur nach.
Die ganze Zeit war von Höhen und Tiefen geprägt. Manchmal war ich fast stotterfrei, manchmal war es wieder richtig da.
Die folgende Zivildienst-Zeit war für mich wichtig, um aus meinem Handeln Selbstwertgefühle zu ziehen. Ich war in der Zeit ganz gut drauf und stotterte wenig.
Ich entschied mich dann für ein Lehramtsstudium. Von meiner Familiensituation her wäre es das naheliegendste gewesen, ein Jura-Studium zu beginnen. Das traute ich mir aber nicht zu, weil ich meinte, das Studium wäre sehr schwierig und man müsse z.B. als Anwalt immer mit selbstsicherer Stimme auftreten. Dass ich mich dann stattdessen für den Lehrerberuf entschied, sehe ich heute als parodox an - weil wohl bei wenigen anderen Berufen die Sprache so im Vordergrund steht wie bei einem Lehrer.
Aber vielleicht steckte hinter der Entscheidung auch, dass ich mit einer Tätigkeit als Lehrer auch die letzten Überreste des Stottern loswerden werde (dadurch, dass man ständig vor der Klasse spricht und man dann nicht mehr aus dem Sprechfluss herauskommt). Das sehe ich jedenfalls heute so und interpretiere das mal einfach in meine damalige Entscheidung hinein.
Nach einem etwas längeren Studium arbeite ich nun als Lehrer im Vorbereitungsdienst.
Bis auf die Schwierigkeiten in pubertierenden Klassen (ich unterrichte nur 8.) für Ruhe zu sorgen, fühle ich mich in meiner Tätigkeit sehr wohl. Endlich kann ich mich jeden Tag präsentieren und kann mir selbst beweisen, dass ich vor einem mittelgroßen Publikum stotterfrei sprechen kann.
Nur Vorstellungsrunden (Namen sagen) und Telefonate sind für mich nach wie vor unangenehm. Das sind fast die letzten Reste, die vom Stottern übergeblieben sind.
Das Spezielle bei mir ist, dass ich gar nicht mehr richtig Stottern kann. Wenn ich hängenbleiben sollte, dann kommt für ca. eine Sekunde nichts raus, ich fange den Satz neu an oder (ultima ratio) ich wähle schnell ein anderes Wort bzw. ich rede um den heißen Brei herum. Letzteres ist zwar nicht so optimal, weil man nicht das sagt, was man eigentlich sagen wollte, aber manchmal geht es eben nicht anders - und es ist auch nur sehr selten.
Ich habe mittlerweile für mich gemerkt: Sprachtraining, Atemtherapien usw. sind eine wichtige Hilfe für Stotterer, um es loszuwerden - das wichtigste ist aber eine positive - lockere - selbstbewusste Haltung zur eigenen Sprache und auch zur ganzen eigenen Person. Bei mir hängt die Fähigkeit stotterfrei zu sprechen, stark davon ab, wieviel Selbstwertgefühl ich aus meinem Leben ziehen kann. Wenn ich keine Erfolgserlebnisse habe und das Leben unbefriedigend und langweilig erscheint, dann kann es leicht passieren, wieder ins Stottern zu verfallen. Ich glaube dann einfach nicht so an mich und meine Sprache. Ich würde sagen, dass das Stottern (zumindest während meines Studium) ein Symptom von depressiven Verstimmungen ist. Sobald ich genug zu tun habe und daraus Erfolgserlebnisse ziehe, stottere ich nicht.
Das ist sicherlich ein bestimmter Typ von Stottern. Vielleicht kann man das Stottern bei mir als "Tick" verstehen - also als etwas, das auftritt, um andere negative Dinge zu kompensieren.
Ich bin jedenfalls nun sehr glücklich, dass ich es so weit gebracht habe und mich vom Stottern nicht von meinem Weg abbringen lassen habe.
Ich hätte mir wohl viel Ärger und Leid erspart, wenn ich mich nach dem Rückfall der Therapie wieder in professionalle Hände begeben hätte. Ich neige aber dazu, immer alles selbst auskurieren zu wollen. Ich sehe ein, dass das meistens nicht richtig ist, aber vom Ergebnis her, hat sich nun alles ganz gut entwickelt.
Viele Grüße,
Malz