...folgender Text erreichte heute meine Mailbox. Wo soll man ihn sonst reinstellen, wenn nicht hier? Der Herr Uschmann ist auf jeden Fall bei den Stott-dot-com-boys mit dabei - und auch bei der Lüdenscheider Schule.
Die Entdeckung der Langsamkeit
oder
Wirksame Wege zu einem erfüllteren Leben
Es ist der Abend, an dem ich bei einem alten Freund eingeladen bin. Ich stehe erst am Mittag auf und quäle mich durchs Bad, meine kleinen Übungen für Rücken und Muskeln, die ich morgens mache, lasse ich weg und mein Frühstück besteht aus einem schnellen Apfel und einer Tasse Kaffee. Ich will noch vieles erledigen, bevor ich abgeholt werde und mich auf den Weg mache und so setzte ich mich an den Computer, um eine Menge geschäftliche E-Mails zu beantworten. Zeitgleich lasse ich das Radio laufen, um Fußball zu hören - ein wenig Entspannung muss sein, schließlich ist es Samstag. Als ich den ersten Schwung E-Mails herausgeschickt habe, komme ich auf die Idee, eine Waschmaschine anzusetzen, stopfe - mit halbem Ohr beim Vfl Bochum - die Wäsche in die Maschine und setzte mich wieder an den Computer. Ich bin müde und habe wieder dieses Gefühl, abzudriften, gegen einen Widerstand anzukämpfen und mich auf nichts wirklich konzentrieren zu können. Den Inhalt mancher Post nehme ich gar nicht richtig auf, öffne ein Fenster für eine Antwort, finde keine Worte, schließe es wieder. Derweil beginnt mein Rücken zu schmerzen, der Vfl schießt das zweite Tor und das Postfach auf meinem Bildschirm sieht nicht ordentlicher aus. Mir fällt ein, dass ich dem einen Kunden noch ein Expose schreiben muss und ich öffne das Programm, doch fehlen mir Daten und ich gehe ins Netz, um meine Frage in die Suchmaschinen zu tippen. Ich finde keine Frage, keine passenden Stichwörter, die Maschine beginnt laut zu schleudern, die Schlusskonferenz dröhnt aus dem Radio und ich fühle mich wie jemand, der erst handelt und dann denkt, jemand, der das Ergebnis noch ohne den Weg, das Ziel ganz ohne Start erreichen möchte. Plötzlich ertönt aus dem Bad ein Geplätscher, ich zucke zusammen, weil mir einfällt, dass ich den Ablaufschlauch nicht in die Wanne gehängt habe, ich renne ins Bad und schnappe mir den wild spritzenden Schlauch, stehe in dreckigem Wasser, bin über und über besudelt, hole Aufnehmer und Handtücher und wische das Bad, ärgere mich um jede Verrenkung, die ich machen muss, um um das kleine Regalschränkchen aus Bambus drumherum zu putzen und werfe wütende Blicke auf die Uhr, die mir sagt, dass mein Freund mich in zwei Stunden abholt. Als ich wieder ins Wohnzimmer komme und das Bad mehr schlecht als recht gesäubert ist, bemerke ich, dass ich immer noch online bin, die Verbindung nicht gekappt habe und nun über eine Stunde umsonst bezahlen muss. Das Radio plärrt einen Hit, den ich nicht mag. Der Tag ist im Grunde gelaufen.
Wenig später kommt der Freund und ich freue mich auf den Abend, glaube, dass er mich retten kann, wenigstens etwas nach so einem Tag. Es ist schon dunkel, als wir durch die Stadt fahren und während mein Freund am Steuer mir von seinen Neuigkeiten erzählt, denke ich an die unbeantworteten Mails, obwohl ich das nicht will. Ich rutsche auf dem Beifahrersitz herum, mein Rücken tut immer noch weh.
Bei unserem gemeinsamen Freund angekommen, nehme ich mir ein Bier und höre die inneren Richter in mir plappern. Du sollst doch nicht mehr so viel trinken. Aber höchstens zwei. Du willst doch morgen joggen gehen. Und vor allem: hast du dir nach so einem Tag überhaupt einen Feierabend verdient? Ich gehe ins Wohnzimmer. Die Leute sitzen auf den Couchen oder stehen in Grüppchen zusammen, ich kenne fast alle zumindest vom Sehen, ich würde gerne zu jemandem hingehen, mich vorstellen und eine neue Möglichkeit eröffnen, doch ich bin drin, drin in meinem Tunnel, drin in meinem Behälter, der mich durch den Abend treibt. Mein Freund legt eine Platte auf und ich staune, denn es handelt sich um eine Musik, die er früher nie mochte. In unserer Jugend hat er mich immer damit aufgezogen, dass ich sowas höre und seine Musik dagegengestellt und jetzt legt er sie selber auf, besitzt sie, hat sie sich gekauft. Na und? quasseln meine inneren Richter, Was beweist das? Es ist die letzte Platte dieser Gruppe und die war doch eh ganz anders als alle davor! Vielleicht war die schon immer eher auf der Seite deines Freundes und passte gar nicht zu dir! Und wie viele Scheiben aus dem Genre hat er denn jetzt, na? Sieh mal nach! Albern ist das, völlig albern, denke ich. Ich bin ein erwachsener Mann und kann mögen, was ich will. Da gibt es kein entweder-oder, keinen Geschmacksverrat an die falsche Partei. Und während ich das denke, schiele ich in sein Plattenregal und suche nach weiteren Indizien für einen Umschwung meines Freundes, suche wie einer, der eine Rechtfertigung sucht, eine Erlaubnis, zu mögen, was er will, zu sein, wie er ist. Ich finde nichts. Finde sonst nur den alten Schmonz, der mich immer so bedrohte, der vor mir schwebte wie eine Anklage, obwohl ich auch vieles von dem Zeug mochte, doch konnte ich das nicht zulassen, denn dann hätten sie gewonnen, die Stimmen, die mich bekehren wollten. Entweder - oder. Entweder. Oder.
Mein Freund spricht mich an und sagt lachend: Die Zeiten ändern sich, was?, doch ich höre ihn kaum, denn im Moment bin ich in der Vergangenheit und höre nur den Jungen, der mich damals gehänselt hat für meinen Geschmack und es wohl nie so meinte, kann nicht umhin, mich innerlich zu wehren gegen die Anklagen, die so laut und deutlich in meinem Kopf herumschwirren, als hätte es die Zwischenzeit nie gegeben. Als ich mit anderen Bekannten auf der Couch sitze, Menschen aus derselben Branche, die mich für meine Kompetenz bewundern und neueste Geschichten aus dem Pool meiner Ideen hören wollen, muss ich mich richtig zwingen, so gut zu sein wie immer, zu erzählen und zu gesellschaften, wie es mir eigentlich riesigen Spaß macht und wie ich es sonst frei atmend genieße. Heute Abend atme ich nicht, halte mich kaum über Wasser wie ein Schwimmer in Not und schieße meine Tore aus einem dauerhaften Rückstand heraus, den ich niemals aufholen kann. Ich trinke immer mehr, ich tadele mich deswegen, ich tadele mich wegen des Tadelns und weil ich so streng mit mir bin. Eine Stimme sagt: Trink ruhig, doch gehe um jeden Preis morgen joggen, damit dus nicht wieder einreißen lässt! Die andere sagt: Was bist du eigentlich für ein rigider Spießer geworden? Kannst du nicht mal feiern, ohne dir ein schlechtes Gewissen zu machen?
Du bist doch bescheuert mit deiner Selbstdisziplin! Die Stimmen schlagen auf mich ein wie Boxer von allen Seiten. Ich nehme die Hände hoch, hänge in den Seilen und warte, bis es vorbei ist. Warte...
Wer kann machen, dass es vorbei ist? Wer ist schuld daran, dass ich in den Seilen hänge? Mein Job? Die Uhr? Die vielen Mails? Die Waschmaschine? Die Tatsache, dass ich nicht reich genug bin, um meine Wäsche von Bediensteten waschen zu lassen? Der Vfl Bochum? Das Schicksal?
Ich. Nur ich.
Spulen wir zurück.
Ich habe in der ganzen Zeit nicht mal den Tag begrüßt. Ich stand nicht auf mit dem Gedanken: Okay, das ist jetzt ein neuer Tag, viele Stunden zu meiner Verfügung, ein Werk für sich, anders als alle anderen, mit einem individuellen Touch, den ich ihm geben kann. Nein, ich stand auf, als wäre allein das Schlafen lästig gewesen, als wäre der Schlaf überhaupt eine Sünde, die unseren einen Tag, den Tag unseres ganzen Lebens, nur unterbricht und bremst und uns davon abhält, vorwärts zu kommen. Weil ich zu spät aufstand, nahm ich mir nicht die Zeit für ein Frühstück, ein paar Übungen und ein wirkliches Um-Mich-Kümmern im Bad. Ich stürzte an den Computer und seine Arbeit, ich schenkte weder dem Tag noch meinem Körper irgendeine Aufmerksamkeit und meinem Geist ließ ich keine Luft zum Atmen. Hatte ich vergessen, zu erwähnen, dass ich meditiere? Jeden Morgen? Eigentlich? Nun denn, ich tippe wohl zu schnell, will hier fertig machen, mache schon wieder die alten Fehler. Zurück zu jenem Samstag.
Was kann der Mensch alles gleichzeitig tun? Vieles. Was kann der Mensch alles gleichzeitig wahrnehmen? Wirklich wahrnehmen? Sich bewusst machen? Wenig. Haben Sie schon mal das Experiment gewagt, eine Sache wirklich zu tun? Das Essen zu schmecken, ohne dabei Zeitung zu lesen, Radio zu hören oder Notizen zu machen? Im Wald zu spazieren, ohne dabei an den Stapel im Büro, den Ärger mit den Nachbarn oder den herausgeschobenen Rückruf zu denken? Die Bäume anzusehen, ihre Rinde, ihre Blätter, das Farbenspiel? Zu riechen? Zu hören? Haben Sie sich einmal irgendwo einfach nur hingesetzt und wahrgenommen, was da war? Einfach so? Gelesen, ohne etwas anderes zu denken? In eine Musik versenkt, bis das Rauschen im Kopf verstummte? Dann wissen Sie schon, was ich an diesem Samstag hätte tun können, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad.
Ich musste Mails beantworten? Gut. Sehen wir mal nach, wie viel ich geschafft habe. Fünf Antworten, davon zwei, in denen ich wichtige Aspekte vergessen hatte. Drei hatte ich komplett vergessen und zweien von den fünf, die ich geschafft habe, hatte ich schon zwei Tage vorher geantwortet und bloß vergessen, die Einträge zu löschen. Zum Aufräumen ließ ich mir halt keine Zeit. Tempo Tempo. Voran voran. Die Wäsche war sauber, aber das Bad verwüstet. Das Expose, das ich zu schreiben anfing, erstickte im Keim.