Habe gerade einen Bericht in den Untiefen meiner Festplatte gefunden, den mir Björn vor längerer Zeit zugesendet hat. Den möchte ich Euch nicht vorenthalten.
Lieber Sihing Hans,
wir hatten ja neulich mal darüber geredet, dass ich einen zweiten Erfahrungsbericht über die durch Dein Training ausgelösten Veränderungen fertig stellen möchte. Es ist ja immerhin schon anderthalb Jahre (!!!) her, dass ich den ersten Bericht geschrieben habe. Es ist Zeit, weitere Erfahrungen weiterzugeben, denn ich merke, dass ich an einem sehr komischen Punkt bin. An einem Punkt des Vergessens, wie es mal war. Ich kann mich immer schlechter an die Schmerzen erinnern, die ich wegen meines Stotterns viele, viele Jahre ertragen musste. Manchmal erinnere ich mich noch daran, aber das kommt nicht mehr so oft vor. Ich weiß, dass ich eines nicht ganz so fernen Tages überhaupt nicht mehr in diesen Problemen stecken werde. Es werden wahrscheinlich andere Probleme sein, vielleicht werden sie ebenfalls mit meiner Persönlichkeit zu tun haben, vielleicht aber auch nur damit, dass ich ja nächste Woche mein Manuskript fertig haben und unbedingt noch 30 Seiten schreiben muss, weil der Verlag mir sonst den Vertrag kündigt oder so was. Man weiß ja nie, was kommt. Es gibt die Zukunft noch nicht.
Es ist jetzt Mitternacht, mal wieder. Ich gebe mir (weil ich weiß, dass ich ansonsten unendlich schreiben würde) jetzt genau bis um eins Zeit, um diesen Bericht in mein Word-Programm zu pressen. Es ist tatsächlich ein Hineinpressen, denn in meinem Leben ist vor allem durch das Meditieren, durch die wiederholte Teilnahme an Deinem Training aber auch durch das ständige Trainieren des WingTsun dermaßen viel passiert, dass mich manchmal eine altes Skript heimsucht und mir einreden will, dass ich das entweder nur träume oder vielleicht doch mittlerweile verrückt bin und längst in eine Klinik eingewiesen werden müsste oder irgend so einen Blödsinn.
Aber es ist nicht so, ich träume nicht. Und ich bin auch nicht (mehr) verrückt. Ich war verrückt, ich glaube sogar, dass ich zumindest angekränkelt war. Aber da bin ich ja nicht alleine, es gibt so viele Menschen um mich herum, die ebenfalls angekränkelt sind. Doch darum soll es jetzt nicht gehen.
Es soll jetzt darum gehen, dass es mir heute richtig gut geht. Ich habe noch viele, viele Ängste in mir (einige sind sogar vorübergehend durch das meditative Bewusstwerden stärker geworden) und auch noch längst nicht alle Sprechsituationen vollständig ins Fließen bekommen. Aber es wird, ich weiß das. Die Gedanken, die mich vom Gegenteil überzeugen wollen, sind längst nicht mehr so stark, als dass sie ihr Vorhaben gegen das meinige durchsetzen könnten.
Ich habe bisher anderthalb Jahre lang (fast) jeden Tag zwischen 40 Minuten und einer Stunde meditiert (wo die Studenten nur die viele Zeit her haben...), habe jeden Tag meine Atemübungen gemacht und so oft wie möglich positives Denken geübt.
Ich hatte in dieser erfolgreichen Zeit einige sprachliche und mentale Rückschläge, habe oft genug an der Sache gezweifelt und habe oft genug überlegt, ob ich mich nicht vielleicht doch meinem „Schicksal“ beugen sollte. Aber ich habe immer weiter gemacht, bin zu den Seminaren gefahren, stand jeden Abend in irgendeiner Bochumer WingTsun-Schule und habe mir meistens geduldig die Schläge eingefangen, die ich tagsüber sprachlich kassiert habe.
Gerade auch im WingTsun habe ich erfahren, dass es nur dann richtig weh tut, wenn man sich seinem Gegner schon ergibt, bevor der Kampf überhaupt angefangen hat. Und wenn ich eine immer wirksame Waffe gegen so einen Mist weiß, dann ist es der Satz:
„Ist der Weg frei, stoße vor!“
Vorstoßen, vorstoßen, vorstoßen… Ich kann nur jedem empfehlen, sich dieses Wort immer wieder vorzusagen – denn es ist ein Wort mit unheimlich viel Power. Und es wirkt überall! In jeder Situation. Wenn man vorstößt und niemals zurück geht, hat man gewonnen.
Ich stoße vor, so viel es geht. Ich meditiere, atme, kämpfe, habe ein zweites Buch geschrieben und danach die Lüdenscheider Schule ins Leben gerufen, habe vor einiger Zeit mein erstes Referat in der Uni gehalten, bei dem ich sprachlich nicht versagt habe, freue mich schon auf meine Magisterprüfungen, werde demnächst WingTsun-Ausbilder, möchte anderen Menschen genauso helfen, wie Du mir geholfen hast, möchte gerne Stotter-Wissenschaftler werden, und ich habe das Gefühl, dass ich mal richtig dicke Kohle haben werde (auch wenn letzteres kein wirkliches Ziel von mir ist).
Und ich kann genießen! Im letzten Herbst (September 2001) habe ich mal wieder den Ort in Dänemark wiedergesehen, an dem ich mit meiner Familie oft Urlaub machte, als ich noch Teenager und ein kleines, fügsames Opfer meiner eigenen Gedankenstrukturen war. Die Angst, wieder nach Hause zu fahren und zu Hause wieder zu versagen, war stets größer als die Freude, mit meinen lieben Eltern und meinem lieben Bruder in einer wunderschönen Natur einen wunderschönen Urlaub zu verleben. Ich konnte es nicht genießen, weil ich wusste, dass zu Hause die dicke Strafe kommen wird. Das Versagen in der Schule, am Telefon, bei den Mädchen…
Aber diesmal war ich WIRKLICH im Urlaub, war ich WIRKLICH mit meinen Eltern zusammen. Ich meditierte am Strand und übte meine WingTsun-Formen und redete 14 Tage lang ausnahmslos fließend mit meinen Eltern, und ich sehe heute noch das zu Tränen gerührte Gesicht meines wunderbaren Vaters, als ich zu meinen Eltern am letzten Urlaubstag den Satz sagte, den ich von Dir geklaut habe:
„Ich grüße das Licht in Dir!“
Ich sehe meine glücklich weinenden Eltern, wie sie mir hinterher winken, als ich mich in meinem Auto von dem Ferienhaus entferne, in der Gewissheit, eine schöne Zeit gehabt zu haben. Und ich weiß noch, wie ich dachte: „Jetzt wissen sie, dass es mir gut geht!“
......
(Fortsetzung im nächsten Beitrag)