Übertrag aus dem alten Forum:
Das Wahrheitswesen schrieb:
Hallo, liebe Stotterer!
Ich bin auf diese Seite gestoßen, und da ich gesehen habe, dass hier nicht ganz so viel los ist, habe ich mir gedacht: versorge das Forum mal mit etwas Neuem. Ich möchte in den nächsten Tagen eine Fortsetzungsgeschichte hier hineinstellen, und ich hoffe, dass Ihr ein wenig Spaß daran habt. Vielleicht gibt es ja dadurch ein bisschen mehr Diskussionsstoff.
Viele Grüße,
das Wahrheitswesen.
Das Wahrheitswesen
Mal wieder laufe ich durch die nächtlichen Straßen. Ziel- und zeitlos …
… Früher tat ich das oft. Stellte mir oft die Frage, was wohl wird. Oder auch, wer ich bin und warum ich so bin, wie ich bin. Fürchtete mich vor dem nächsten Tag und hätte es am liebsten gehabt, wenn diese Nacht ewig gedauert hätte. Die Nacht, meine große Liebe. In der Nacht rief niemand an, und wenn doch, hatte ich die Legitimation, den Anrufbeantworter herangehen zu lassen. Es passierte nach zwei Uhr morgens selten, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich hätte unterhalten müssen.
Aber manche Nächte waren auch schlimm. Zum Beispiel die, in denen ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank holte. Daraus wurde oft noch ein zweites. Manchmal schlief ich mit der Bierdose auf dem Bauch ein und erwachte wieder, als ich die Nässe meines Hemdes bemerkte. Und die Nachrichtensprecherin im Fernsehen erzählte mir Geschichten:
„Wach endlich auf! Sieh endlich ein, dass du verrückt bist! Du kannst dich nicht schützen, du kannst nicht ewig vor dem Aufwachen davonlaufen!“
Es dauerte oft viel zu lange, bis ich begriff, dass es nur ein Traum gewesen war. Als ich dann tatsächlich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich: dieser Tag wird schrecklich!
Oder auch solche Nächte, in denen ich selbst ohne Bier die Vorstellung hatte, jemand würde mich beobachten. Jemand würde darauf warten, dass er endlich aus dem Dunkel hervortreten und mir die Wahrheit zeigen könnte. Die einzige Wahrheit. Über mich. Und über mein Leben. Manchmal hatte ich das Gefühl, vor dem Wahrheitswesen davonlaufen zu wollen. In solchen Momenten glotzten sie mich an – sie, die Augen an meiner Wand. Die vielen Augen auf Bildern, die an meiner Wand hingen. Sie erinnerten mich daran, dass all das meine Schuld war. Nur ich war schuld. Nur ich hätte nach der Therapie weiterüben können. Nur ich habe den Fehler gemacht, nicht mehr zu üben, mich in den Rückfall hinein zu bringen.
Dass das Wahrheitswesen mir das erzählen, wenn es sich denn endlich zeigen würde, das war mir klar. Besonders in den Nächten, in denen mir das Bier über das Hemd lief, weil ich mit der Dose auf dem Bauch eingeschlafen war. Das Wahrheitswesen, das wusste ich, würde mich verbal zerfetzen. Es würde mir zeigen, was ich doch für ein schlechter Mensch bin. Und ich hatte Angst vor dem Wahrheitswesen …
… Irgendwo fällt eine Kofferraumklappe ins Schloss. Ich liebe diesen Sound! Kofferraumklappen, die ins Schloss fallen, bedeuten, dass jemand heute Nacht noch wegfährt. Vielleicht für ein paar Tage. Vielleicht in den Urlaub. Vielleicht tut er auch das, was ich mir früher immer vorstellte: abhauen! Ab ins Auto und nicht mehr wiederkommen. Allen sagen, es sei nur ein Urlaub. Allen sagen, man sei in zwei Wochen wieder da. Und nicht mehr wiederkommen. Ein anderes Leben, weit weg vom Wahrheitswesen.