Meditation - Mittel zur geistigen Befreiung
Aturugirye Sri Gnanawimala Maha Thero
Printed at H.W. Cave & Co. Ltd. 199, Vauxhall Street Colombo 2, Sri Lanka
Gewidmet Dr. Paul Dahlke (1865-1928)
1. Meditation - Mittel zur geistigen Befreiung
2. Zur Entfaltung von allumfassender Liebe-Güte (mettá-bhávaná)
3. Die Entfaltung der allumfassenden Liebe-Güte (mettá-bhávaná)
4. Wichtige Hinweise zur Meditation
5. Schlusswort
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1. Meditation - Mittel zur geistigen Befreiung
Der Ausdruck "geistige Freiheit", der eine tiefe Bedeutung hat, steht in einem gewissen Zusammenhang mit den Begriffen "Muße" oder "Abgeschiedenheit". Stellen wir uns vor, jemand trennt sich für kurze Zeit von den Menschen, mit welchen er normalerweise zusammenlebt, und verweilt irgendwo ohne die geringste Beschäftigung. Manche gehen auf der Suche nach "Muße" an besondere Plätze. Sie essen, trinken und amüsieren sich; aber das ist keine "Muße", denn solche Menschen folgen nur einem anderen Programm von Aktivitäten, nachdem sie die früher praktizierte Routine abgelegt haben. Diese Art von Veränderung der eigenen Lebensweise ist dem Verhalten jenes Mannes ähnlich, der Alkohol oder Salzwasser trinkt, um seinen Durst zu löschen. Wirkliche "Muße" jedoch besteht in einem bestimmten Zustand des Geistes.
Was ist nun der "Geist"? Wir sollten hier eine genaue und klare Vorstellung von dem gewinnen, was wir als "Geist" bezeichnen. Gemäß der Lehre des Buddha wird ein Lebewesen durch das Zusammenwirken psychischer und physischer Erscheinungen gebildet, die den fünf Bereichen (khanda) Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gestaltung und Bewußtsein angehören. Die letzten vier, also Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gestaltung und Bewusstsein, können als Einheit unter der Bezeichnung "Geist" zusammengefasst werden. Hierunter dürfen wir jedoch nichts Substantielles, Bleibendes verstehen, da es sich um einen Prozess handelt, der unaufhörlichen Veränderungen unterliegt.
Zum Zwecke unserer Untersuchung kann zwischen aktivem und passivem "Geist" unterschieden werden. Der aktive "Geist" ist gekennzeichnet durch das Zusammenspiel von Empfindungen, Wahrnehmungen und geistigen Gestaltungen. Die Aktivität setzt in dem Moment ein, wenn Sinnesorgan, Sinnesobjekt und Bewusstsein zusammenwirken, so dass ein Wahrnehmungsvorgang entsteht. Nehmen wir zum Beispiel das Hören, das in dem Moment einsetzt, wenn ein Ton an unser Trommelfell gelangt und dabei auch das Bewusstsein zugegen ist. Gleich von Anfang an ist dieser Hörvorgang gefühlsmäßig beeinflusst. Der gehörte Ton wird als ein bestimmtes Objekt mit diesen oder jenen Eigenschaften ausgemacht, was wir Wahrnehmung nennen. Schließlich ordnen wir das Gehörte in unser Weltbild ein und reagieren darauf - in der Regel mit Zu- oder Abneigung. Das ist geistiges Gestalten. Ausgehend von jenem Augenblick, in dem sich bedingt durch das Zusammenwirken von Sinnesorgan, Sinnesobjekt und Bewusstsein ein wenn auch noch so schwaches Gefühl in uns erhebt, haben wir eine stetige Zunahme von geistiger Aktivität innerhalb des Wahrnehmungsvorganges zu verzeichnen. Als passiver "Geist" wird demgegenüber jener Zustand bezeichnet, der bei Bewusstlosigkeit oder im Tiefschlaf vorherrscht.
Die wahre Muße, nun, ist mit dem aktiven Geist verknüpft, in welchem Gefühle, Wahrnehmungen und geistige Gestaltungen zugegen sind. Muße, wie wir sie verstehen, darf nicht einfach eine andere Form gewöhnlicher Aktivitäten oder ein Ersatz für diese sein, sie darf nicht etwa nur ein neuer Weg sein, auf dem man den gewohnten Methoden sinnlicher Befriedigung Genüge tut. Jene Beschaffenheit des Geistes, die wirkliche Muße beinhaltet, nennt man "geistige Ruhe". Der Ausdruck "geistige Freiheit" umfasst jedoch eine noch tiefere Bedeutung als "geistige Ruhe".
Viele Menschen kämpfen um politische Freiheit und sind sogar bereit, ihr Leben für dieses Ziel zu opfern. Und es ist wahr, dass politische Freiheit überaus notwendig ist. Aber wenn wir geistig versklavt sind, dann wird auch die politische Freiheit wertlos. Um geistige Freiheit zu erreichen, braucht man nicht gegen irgend jemanden zu kämpfen. Der Kampf soll vielmehr dort ausgetragen werden, wo es um das eigene Anhaften an falsche Vorstellungen geht. Der Ort, an welchem der Kampf geführt wird, liegt also in einem selbst. Und wir können dann geistige Freiheit erringen, wenn wir in der Lage sind, den aktiven Geist zu einem willigen Diener unter unserem Kommando zu machen. Hierzu müssen wir keinen Krieg außerhalb von uns selbst führen. Es ist nur notwendig, entschlossen gegen die eigenen unklaren Vorstellungen und Antriebe anzugehen. Dies ist in erster Linie eine innere Angelegenheit, keine äußere. Der Geist eines Menschen, der sich von falschen Vorstellungen befreit hat, ist durch dringend und voller Erkenntnisfähigkeit Diese Weisheit, die die Dinge so sieht wie sie wirklich sind, heißt "Klarblick" (vipassaná). Sie ist ruhig, still und frei von Hindernissen, frei von Verwirrung Befreiung bedeutet, diese Einsicht zu besitzen.
Solange wir unseren Geist von jenen Kräften, die uns ein verzerrtes Bild von der Welt vermitteln, noch nicht befreit haben, sind wir nicht in der Lage, den Lebensprozess so zu sehen, wie er ist. Wir brauchen eine tiefe, wirklichkeitsgemäße Einsicht in die Vorgänge des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und natürlich auch in den Ablauf des geistigen Wahrnehmens, durch den solche Objekte wie Gedanken oder Vorstellungen erfasst werden. Denn aus diesen sechs Bewusstwerdevorgängen besteht unser Leben, darin spielt es sich ab. Verschiedene Formen des Anhaftens und eine ganze Reihe von Vorurteilen halten uns jedoch von einer realistischen Sicht der Dinge ab, wie zum Beispiel unser Hängen an Traditionen. Obwohl einige der traditionellen Sitten und Verhaltensweisen nicht mehr zeitgemäß sind, denken viele Menschen, dass diese alten Normen bewahrt werden müssten, weil sie ein Teil der eigenen Überlieferung sind. Hier können wir erkennen, wie weit unsere Einstellungen und Verhaltensweisen durch das Haften an Traditionen und Gewohnheiten gefesselt sind. Ein versklavter Geist ist so trübe und dunkel, dass die Strahlen des Lichtes, welche die Dinge so erscheinen lässt, wie sie tatsächlich sind, ihn nicht erreichen. Wir müssen uns deshalb von allen Dogmen und falschen Vorstellungen frei machen.
Es gibt eine große Anzahl von Fehlhaltungen, die die Freiheit des menschlichen Geistes erschüttern und ihn gefangen halten. Eine von ihnen ist die Angst, die aus den Tiefen des menschlichen Bewusstseins kommt. Die Angst beeinflusst unser Denken und Fühlen, und die von ihr geprägten geistigen Haltungen (wie zum Beispiel das Sicherheitsdenken) binden uns an Traditionen, Sitten, Gewohnheiten und Rituale, manchmal sogar gegen unsere eigene bessere Einsicht in die wirkliche Natur des Daseins.
Um unser Denken, das durch die verschiedenen Formen von Dogma und Spekulation gefangen gehalten wird, zu befreien, müssen wir den Weg geistiger Übungen beschreiten, welcher ein genaues Kennenlernen unserer eigen psychischen Phänomene beinhaltet. Dabei sollen wir durch wiederholtes Üben lernen, mit unseren Geisteszuständen und Emotionen bekannter zu werden und mit ihnen in der rechten Weise umzugehen. Diese Arbeit an uns selbst wird als Geistesentfaltung oder Meditation (bhávana) bezeichnet. Man könnte meinen, dass Meditation "denken" bedeutet, "spekulieren" oder "Konzentration des Geistes", individuell oder kollektiv. So verhält es sich je doch nicht. Denn das Denken ist eine Sache und die Meditation eine andere. Die wirkliche Geistesentfaltung besteht im Üben von Achtsamkeit und Bewusstseinsklarheit in Bezug auf das, was sich gegenwärtig ereignet. Wir lernen dabei mit den eigenen körperlichen und geistigen Aktionen und Reaktionen so umzugehen, dass sie nicht ohne unsere bewusste Hinwendung in Erscheinung treten können. Das Ergebnis einer so betriebenen Geistesentfaltung ist geistige Freiheit.
Die ‘Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit’ (Satipatthána Sutta), die den buddhistischen Meditationsweg zum Inhalt hat, gibt vier Meditationsbereiche an. Sie werden als die ‘Vier Grundlagen der Achtsamkeit’ bezeichnet.
Es sind dies Körper, Gefühle, Geisteszustände und Geistesobjekte. Derjenige, der Meditation zu üben gedenkt, soll einen Ort wählen, der nach Möglichkeit frei von Störungen ist und sich dort mit gekreuzten Beinen (oder in einer anderen Haltung) und aufrechtem Körper niederlassen. Sodann möge er sich um Abstand voll der Vorstellung eines ‘Ich’ oder ‘Mein’ oder einer ‘Persönlichkeit’ bemühen, indem er seinen Körper als eine Anhäufung von Materie betrachtet und seinen Geist als das Zusammenwirken von Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedankentätigkeit und Bewusstsein.
Das Einatmen (ána) und das Ausatmen (ápána) ist als Gegenstand der Betrachtung in der Meditation besonders geeignet, wobei der Vorgang des sich Ausdehnens und Zusammenziehens unter anderem im Bereich der Bauchdecke oder die durch die Atmung bedingte Druckempfindung an der Nasenöffnung verfolgt werden kann. Das geschieht in der Form, dass das Objekt ohne gedankliches Dazutun (abschweifen) allein der neutralen Betrachtung unterzogen wird. Der burmesische Mönch Mahasi Sayadaw sagt in diesem Zusammenhang: "Achtsam sein auf die beiden Bewegungen des Unterleibes, nämlich das Heben (Ausdehnen) und das Fallen (Zusammenziehen)." Dieser Vorgang wird Achtsamkeit in Bezug auf den Körper (káyagáta) genannt, weil Ein- und Ausatmung ganz wesentlich mit dem Körper verbunden sind.
Ein- und Ausatmung geschieht bei allen Menschen, aber kaum jemand verfolgt diesen Vorgang mit besonderer Aufmerksamkeit. Ein Meditierender muss jedoch sorgsam darauf achten und wird dadurch allmählich imstande sein, den eigenen Geist von Spekulationen, Einbildungen und anderen störenden Gedanken frei zu halten. Der Länge oder Kürze des Ein- und Ausatmens soll im übrigen keine besondere Bedeutung beigemessen werden. Es kommt lediglich darauf an, dass der Meditierende sich in die Prozesshaftigkeit des Atemvorganges einlebt und sich der Tatsache bewusst ist, dass einige Atemzüge kurz und andere lang sind.
Wenn unser Körper von einer Krankheit befallen wird, und mag sie noch so alltäglich sein wie beispielsweise eine Erkältung, tun wir alles zu seiner Heilung. Auch unser Geist kann leicht von Krankheiten befallen werden, wobei unser Denken durch den Einfluss negativer Gedanken in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Meditierende muss auf solche Dinge achten und durch Aufmerksamkeit und Bewusstseinsklarheit solchen schädlichen Einflüssen entgegenwirken. Gedanken stehen sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft in Verbindung und wandern bei dem Ungeübten hier- und dorthin, durchströmen seinen Geist und umhüllen ihn. Der Geist befindet sich also zunächst weitgehend in einem schwankenden, unruhigen Zustand, welcher unvermeidlich solange anhält, wie es an geistiger Entwicklung bzw. an geistiger Sammlung mangelt. Negative Gedanken lassen sich allerdings auch bei einiger Übung nicht immer vermeiden. Es ist aber auch nicht die Aufgabe des Übenden, sie zu verdrängen. Vielmehr soll er sich ihrer bewusst werden, sie in die Gegenwart seiner Betrachtung ziehen und sie dabei aufmerksam und neutral beobachten.
Während der Intensivübung (im Sitzen) ist der ein- und ausströmende Atem beziehungsweise der sich ausdehnende und zusammenziehende Körper (z.B. der Bauch) das Hauptbetrachtungsobjekt, während alle jene Vorgänge, die durch die Stärke ihres Auftretens die Aufmerksamkeit von diesem Objekt weglenken, als Nebenobjekte bezeichnet und als solche ebenfalls der neutralen Beobachtung unterzogen werden. Diese Objekte, wie Geräusche, Gerüche, Gefühle und Gedanken, kann sich der Anfänger durch eine gedankliche Notiz verstärkt bewusst machen. Dringt zum Beispiel während der Übung ein mehr oder weniger lautes Geräusch in den Vordergrund des Bewusstseins, so wird das Hauptobjekt vorübergehend verlassen und das akustische Signal der Beobachtung unterworfen. Die Hinwendung zu dem neuen Meditationsobjekt wird durch die kurze gedankliche Notiz ‘hören - hören - hören’ bewusst gemacht. Man verfolgt dann mit Achtsamkeit das neue Objekt in seinem Entstehen und Vergehen, wobei man sich bemühen sollte, die akustischen Signale dort zu beobachten, wo sie entstehen, nämlich am Sinnestor (hier das Ohr, das Trommelfell). Sobald das Interesse am Nebenobjekt schwindet, wendet man sich wieder seinem Hauptobjekt, dem Atem, zu. Entsprechend sagt man sich bei Gedanken ‘denken - denken - denken’, bei Gefühlen ‘fühlen - fühlen - fühlen’, bei Gerüchen, riechen - riechen - riechen’ usw.
Neben den Sitzübungen können zur Abwechslung auch Gehübungen gemacht werden, wobei man sich bemüht, den Wechsel vom Sitzen zum Gehen und die folgende Schrittbewegung so aufmerksam wie möglich zu beobachten oder zu erleben. Für die Gehübung ist ein ebener Pfad besonders gut geeignet. Beim Gehen sollte der Übende sich dessen bewußt sein, dass er geht und sich dabei in jede einzelne Bewegung einzuspüren suchen. Das gedankliche Notieren kann auch hier eine Hilfe für den Anfänger sein, um sich der Einzelheiten des Gehvorganges stärker bewusst zu werden. Man sagt sich dabei in Gedanken und im Gehrhythmus ‘auf - vor - ab’, ‘auf - vor - ab’ usw. Ist man am Ende des Übungsweges angelangt, sollte die Kehrtwendung wieder achtsam und bewusst vollzogen werden. Der Wechsel vom Gehen zum Sitzen geschieht schließlich in der gleichen Weise.
Im Anguttara Nikáya sagt der Buddha folgendes zur Gehübung:
"Es gibt, ihr Mönche, fünf Vorteile bei der Gehübung. Welche fünf?
Es härtet einen ab für zukünftige Wanderungen;
es ist gut für das eigene Streben;
es ist gesund;
es fördert die Verdauung, nachdem man gegessen und getrunken hat;
die durch die Gehübung gewonnene Sammlung hält lange an.
Dies, ihr Mönche, sind die fünf Vorteile der Gehübung."
Das Sitzen und Gehen sind wichtige Bestandteile der gesamten Meditationspraxis. Die Übungspraxis sollte jedoch nicht allein auf diese Übungen beschränkt sein, sondern auch das tägliche Leben mit seinen vielfältigen Geschehnissen einschließen, wobei man alle sich bietenden Chancen geschickt für den Übungsfortschritt nutzen und sich in Achtsamkeit üben möge, ohne sich jedoch dabei in Widersprüche mit seiner Umwelt zu verwickeln. Die zwei Abschnitte des Satipatthána Sutta über Haltung (iriyápatha) und Wissensklarheit (sampajañña) sind in all diesen Zusammenhängen von Bedeutung.
Während solcher Tätigkeiten wie Laufen, Autofahren, Sporttraining, Lesen oder Schreiben oder während täglicher Routineverrichtungen kann die Aufmerksamkeit natürlich kaum für einen längeren Zeitraum intensiv auf bestimmte Objekte gerichtet werden. Man mag vielmehr die Achtsamkeit auf die jeweilige und gerade ablaufende Handlung lenken bzw. sich darüber im klaren sein, was man im Moment tut, wobei man soviel Einzelheiten wie möglich beobachten sollte.
Das Ziel dieser Übung besteht darin, dass man so aufmerksam und objektiv wie möglich alle Begebenheiten, die sich gegenwärtig abspielen und an welchen man innerlich beteiligt ist, beobachtet, ihnen jedoch nicht mit irgendwelchen Einbildungen folgt. Wenn man beispielsweise ein Auto fährt, dann lasse man die Gedanken nicht von dem momentanen Vorgang des Fahrens wegwandern. Seien Sie sich Ihres Tuns bewusst! Seien Sie sich darüber im klaren, ob Sie gezielt irgendwo hinsehen oder nur einfach umherschauen, ob Sie Ihren Körper beugen oder strecken, ob Sie berühren, festhalten oder loslassen, ob Sie sich ausziehen oder anziehen, ob Sie essen oder ein Bedürfnis verrichten. Wann immer der Geist über die besondere gegenwärtige Begebenheit hinausgeht, sollte dies erkannt und die Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart des betreffenden Geschehens gerichtet werden. Wenn man es sich zum Motto macht, darauf acht zu geben, dass keine körperlichen oder geistigen Aktionen oder Reaktionen ohne das eigene Wissen und ohne die eigene Zustimmung entstehen und vergehen, dann wird jeder Augenblick im Leben mit Meditation verknüpft sein.
Achtsamkeit (satipaccupatthána - in einigen Lehrreden auch sati genannt) stellt eine besondere geistige Eigenschaft mit großen Entfaltungsmöglichkeiten dar. Im philosophischen Teil des buddhistischen Kanons (Abhidhammattha Sangaha) wird sie als ‘erhabene Eigenschaft des Geistes’ (sobhana - sadá-rana) bezeichnet, und das zentrale Thema und die grundlegende Unterweisung in der ‘Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit’ (Satipatthána Sutta) ist eben die beharrliche Entwicklung dieser Geisteshaltung.
Weisheit (paññá) ist ein weiterer Begriff, der zahlreiche Bedeutungen einschließt. Weisheit beinhaltet eine latente und sehr subtile Energieform mit ebenfalls großen Entwicklungsmöglichkeiten. Beide, Achtsamkeit und Weisheit, werden auch als ‘Achtsamkeit und Bewusstseinsklarheit’ (sati-sampajañña) bezeichnet. Nach buddhistischer Auffassung können diese Eigenschaften durch eine systematische Praxis, wie das Üben von ‘Meditation’ oder ‘geistiger Entfaltung’ (bhávaná) entwickelt werden. Gleichzeitig befähigen beide Eigenschaften den Meditierenden, das Dasein der Wirklichkeit gemäß zu begreifen.
In einem Säugling liegt unter anderem die Möglichkeit, ein erwachsener Mensch mit solchen Fähigkeiten wie Achtsamkeit und Wissensklarheit zu werden. Niemand wird die Tatsache leugnen, dass rechtzeitiges und systematisches Üben solche Eigenschaften entscheidend fördern. Achtsamkeit und Bewusstseinsklarheit sind nämlich ruhende Kräfte, die entwickelt werden und einen Menschen befähigen können, die wahre Natur des Daseins zu erkennen. Am folgenden Beispiel kann man vielleicht noch deutlicher sehen, welche Bedeutung der Förderung, der Entwicklung von Fähigkeiten zukommt.
Wenn beispielsweise jemand Teile eines Buches im Gedächtnis behalten möchte, muss er seine Achtsamkeit auf die betreffenden Textstellen richten und den Text mehrmals aufmerksam und bewußt lesen. Als Resultat ständiger achtsamer Wiederholung desselben Textes, wird er bald fähig sein, diesen wiederzugeben, ohne dabei in sein Buch zu schauen. Dies ist möglich, weil die Verbindung von Achtsamkeit und Bewusstseinsklarheit und ständiger Wiederholung eine Prägung, eine Spur im Geist hinterläßt, welche als Erinnerung oder als Gedächtnis bezeichnet wird.
Die geistige Eigenschaft, die wir Achtsamkeit nennen, gehört zu jener psychologischen Kategorie, die früher bereits unter der Bezeichnung ‘aktives Denken’ erwähnt wurde. An einer anderen Stelle dieses Aufsatzes wurde auch auf die andere wichtige Geisteshaltung, nämlich ‘passives Denken’ hingewiesen. Es ist eine Tatsache, dass bei bestimmten Gelegenheiten vergessene oder verdrängte Erlebnisse aus der Vergangenheit aufsteigen. Dabei kann es sich um ‘Wirkungen von Taten’ (kamma vipáka) handeln oder um rein ‘funktionelles Bewusstsein’, karmisch unabhängiges Bewusstsein (kiriya), welche im passiven Bewusstsein ruhen.
Bei solchen Gelegenheiten mögen wir uns vielleicht an etwas ‘erinnern’, wie etwa an ‘frühere Geburten’ (pubbenivásánussati). Diese Form der Erinnerung ist eine der höheren Kräfte und ein Bestandteil des dreifachen Wissens (tivijja - Erinnerung an frühere Daseinsformen, das ‘Himmlische Auge’ und die Triebversiegung). Der menschliche Geist kann, wenn er durch Meditation entwickelt oder in Achtsamkeit und Weisheit geschult ist, die Fähigkeit erlangen, solche geistigen Möglichkeiten, die das Erkennen vergangener und bis dahin schlummernder Ereignisse, zu erwecken.