Natürlich darf man nicht vergessen, denn das wäre eine Schande, dass es auch durchaus Momente gab, in denen Tims Welt ihm nicht so schrecklich vorgekommen war. Es war keineswegs so, dass ständig nur negative Gefühle in seinem Kopf herumschwirrten, manchmal war dieser Tumor sogar sehr klein und machte sich wochenlang nicht bemerkbar. Aber heute war er sehr groß, und dann konnte er auch fast schon tödlich sein.
“Wovor haben sie am meisten Angst beim Telefonieren?” Diese Frage schwebte in Tims Kopf umher, und er fand keine Antwort auf diese Frage. Wovor hatte er in diesem Telefonat damals am meisten Angst gehabt? Vorm Stottern, ohne Zweifel, aber vorm Stottern hatte er auch in anderen Situationen sehr viel Angst. Was machte das Telefonieren so einzigartig bedrückend? Vielleicht die Tatsache, dass man durch das Telefonieren, bzw. durch die Tatsache, dass es das Telefon gab, nie vollkommen sicher vorm Reden war. Man mußte immer darauf gefaßt sein, dass plötzlich das Telefon klingelte, und so konnte man sich nie völlig entspannen. Aber da mußte es noch mehr geben, das konnte doch nicht alles sein. Wenn das alles gewesen wäre, wäre nicht jedes Telefonat mit solchen Qualen verbunden gewesen. Ein anderes Ereignis am Telefon fiel ihm ein.
Werner anrufen! Werner war Tims Trainingskollege, der ihn Montag und Donnerstag immer zum Training mitnahm, das im Nachbarort stattfand. Werner war schon ein netter Vertreter, Tim mochte ihn sehr. Er war vielleicht Ende 30 oder Anfang 40. Tim war mit 15 Jahren einem Ju-Jutsu-Verein beigetreten, und seitdem fuhr er meistens mit Werner zusammen dorthin. Aber auch hier galt immer die Regel: nie stottern. Tim, egal, was du machst, du darfst nie stottern!, betete er oft in seinem Tu-mor-Gehirn herunter. Tim sagte damals immer zu seiner Mutter, dass er, wenn er auch nur einmal stottern würde, sofort aus dem Verein austreten würde. Nie hatte jemand aus dem Verein erfahren, dass Tim stotterte, und dabei sollte es auch bleiben. Dass der bisher erfolgreiche Versuch, immer flüssig zu reden, einen enormen Druck auf Tim ausübte, dürfte klar sein, aber Tim bekam diesen Druck nur in der Form mit, dass er immer weniger Lust hatte, zum Training zu gehen, obwohl er große Fortschritte machte und schon kurz vor seiner Orangegurt-Prüfung stand.
An diesem Tag hatte Tim ebenfalls keine Lust, zum Training mitzufahren. Der Vorwand, zu Hause zu bleiben, war damals eine bevorstehende Mathearbeit, aber Tim wußte, er würde diese Arbeit sowieso nicht schaffen. Also hätte er auch mitfahren können. Der einzige Grund nicht mitzufahren war natür-lich der, dass diese Maske, die Tim immerhin schon seit zwei Jahren in dem Verein aufsetzte, höchst-wahrscheinlich irgendwann nicht mehr so gut funktionieren könnte, und dass irgendjemand aus die-sem Verein sein Sprachproblem, seine alte beschissene Behinderung, die ihn noch eines Tages auf-fressen würde, mitbekommen würde. Aber Tim wollte nicht wahrhaben, dass er davor flüchtete, also schob er es auf diese Mathearbeit, für die zu lernen keinen Zweck hatte.
Jetzt gab es nur ein Problem: er mußte Werner anrufen, um ihm zu sagen, dass er Tim heute nicht abzuholen brauchte. Und selber anrufen war noch um einige Einheiten schwerer als den Hörer abzu-nehmen, wenn das Telefon klingelte. Denn wenn man selber anrief, mußte man seinen Namen sagen und konnte nicht nur einfach ‘ja’ sagen. Außerdem hatte man dann einen ganzen Text aufzusagen, denn man wollte ja etwas von demjenigen, den man anrief. So müßte Tim in dieser Situation zum Beispiel sagen: “Hallo, Tim Habermann hier, ist der Werner da?” Das war der erste Satz. Falls Werner nicht da wäre, müßte er sagen: “Können Sie ihm sagen, dass ich heute nicht mitfahre zum Training.” Das wäre der zweite Satz. “Ich fahre dann nächste Woche wieder mit.” Der dritte Satz. “Danke, tschüs.” Der vierte Satz. Insgesamt 26 Möglichkeiten, bei einem Wort nicht weiterzukommen und ein neues Versagenserlebnis hinter sich zu bringen. Dass der Moment des Stotterns allerdings kein Versagenserlebnis war sondern eher ein Schritt in die Selbstakzeptanz, das wußte Tim nicht, und hätte er es damals schon gesagt bekommen, er hätte dem Menschen, der ihm so etwas Abfälliges ge-sagt hätte, nicht geglaubt.
Tim stand also erneut in dem Wohnungsflur und überlegte krampfhaft, ob er das Telefon aus dem Fenster schmeißen sollte, den Anruf wagen sollte, oder einfach doch mitfahren sollte. Aber was sollte dann aus dieser heiligen Mathearbeit werden? Das ging also nicht. Die erste Möglichkeit war auch nicht realistisch, denn Werner war schon so entgegenkommend und nahm Tim immer mit, und ihn dann einfach zu versetzen, wäre verdammt unhöflich. Also mußte er anrufen. Er mußte riskieren, bei einem dieser 26 Wörter hängenzubleiben. Was sollte er tun, wenn es tatsächlich so kommen sollte?