Gruppenthe-te-therapie von Bjoern

Kostenlos: 5 Übungen gegen Stottern

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  • Übertrag asu dem alten Forum
    Bjoern schrieb:


    Hallo!
    This is Bloody Björn writing. Ich möchte darauf hinweisen, dass einer der längsten Erfahrungsberichte über eine Sprachtherapie unter dem Titel "Gruppenthe-te-therapie" von der Homepage vom Hans downgeloadet werden kann. Ich freue mich über jede Kritik.
    Björn (ein junger, gutaussehender Schriftsteller aus Bochum)

  • Hallo Bjoern!
    entschuldige, daß ich mich hier als Nicht-Stotterer mal einklinke, aber ich fände es toll, wenn du dir mal die Mühe machen würdest, deinen Erfahrungsbericht trotzdem mal ausschnittsweise hier zu posten, dann könnten andere vielleicht auch Ihre Kommentare dazu schreiben...;)


    Du kannst übrigens hier auch direkt Links einfügen!
    Hier der Link zu Deinem Bericht:
    http://www.stott.de/buch.pdf
    Viele Grüße vopm Beech



    PS: Bilder und Filme und alles andere was so im Netz ist können auch direkt hier eingefügt werden:


  • Recht hast Du, Beech!


    Hier also mal ein Ausschnitt aus meiner Erzählung. Und wenn Ihr wollt, könnt Ihr ja auch mal zu der URL gehen, die Beech schon angegeben hat. http://www.stott.de/buch.pdf
    In diesem Sinne,Bloody.



    Telefon


    Alle saßen in dem kleinen Versammlungsraum der Mitarbeiter. Sie mußten sich ziemlich drängen, und manche mußten stehen. Zwischen den beiden Fenstern hing ein kleiner Zettel, auf dem alle Namen der Teilnehmer des Kurses 12 mit Namen und Alter vermerkt waren. Auf dem Tisch in der Mitte des Rau-mes lag das sogenannte Nachtwachenbuch, in dem ebenfalls alle Namen aufgelistet waren, mit den Zu-sätzen, wann die Patienten ins Bett gehen sollten und auf welche Patienten die Nachtwache am meisten achten sollte. In dieser Gruppe war es Magdalena, die besondere Achtsamkeit benötigte. Denn sie hatte ständig irgendwelche neuen Krankheitsbilder vorzuweisen, die fast unberechenbar waren.
    Dicke Aktenordner, Stifte, Stempel, leeres Papier. Dieser Raum war die Schaltzentrale, in der sozusa-gen entschieden wurde, was der einzelne Patient so zu tun hatte, aber bis auf ein Buch, das im Zimmer lag und ‘Erfolg in der Stotterertherapie’ hieß, hätte ein Unwissender niemals damit gerechnet, dass von hier aus im Jahr ungefähr 20 Stotternden geholfen wurde. Dieser Raum hatte nichts von dem Geruch des Stotterns, nichts von dieser erdrückenden Traurigkeit, die die meisten Behinderten (egal, in welcher Weise sie behindert sind) befällt, wenn sie auf ihre Behinderung aufmerksam gemacht werden. Es war Tim direkt aufgefallen, als er dieses Haus zum ersten Male betreten hatte: das Stottern wurde hier durch Akten und Bücher zu etwas nicht Emotionalem, und das störte ihn.
    Wo war die Trostlosigkeit in diesen Räumen? Es konnte doch nicht sein, dass sie ihn als einen unter vielen in einer Akte vermerkten, ohne daneben zu schreiben, wie schlecht es ihm im Moment ging. Sie konnten doch nicht all seine selbstvernichtenden Gedanken außer Acht lassen und einfach so eine The-rapie mit ihm durchführen. In der Schule, zu Hause, überall hatte er Gelegenheit, sich selbst an die Pro-bleme, die das Stottern so mit sich führte, zu erinnern. In der Schule zum Beispiel mußte er nur die Türklinke des Haupteingangs herunterdrücken und schon wurde ihm klar, er würde heute wieder derbe auf die Schnauze fallen, weil er Geschichtsunterricht hatte und wahrscheinlich das nächste Kapitel refe-rieren müßte. Zu Hause brauchte er nur an dem Telefon vorbeizugehen, und im gleichen Moment ver-kroch er sich in sein Zimmer und dachte darüber nach, dass das Telefon eine ganz schlechte Sache war. Aber hier in der Klinik hatte es in den letzten Tagen so etwas nicht gegeben. Gleich von Anfang an hatte der Therapeut, zum Beispiel durch die Aufnahme auf das Videoband, Tims Problem verwissenschaft-licht, also mit anderen Worten jahrelange Selbstmitleidsphasen, Gedanken und Wutanfälle in den geisti-gen Papierkorb geschmissen, um die Festplatte für eine neue, wissenschaftliche Art zu denken freizuge-ben. Natürlich ist es schwer zu verstehen, aber Tim hatte sich an diese Trostlosigkeit des Stotterns ge-wöhnt. Er wußte nicht, ob er bereit war, die Welt dieser Trostlosigkeit aufzugeben und in die Welt der Wissenschaft einzusteigen, denn wenn diese Therapie fehlschlagen würde, müßte er zur Trostlosigkeit zurückgehen und sie anflehen, dass sie ihn wieder zu sich aufnahm.
    Aber noch war es ja auch noch nicht so weit, dass er sich endgültig von seiner Negativwelt loslösen mußte, denn noch hatte Tim im Prinzip keinen einzigen Schritt nach vorne gemacht, und es standen ihm noch einige schwierige - und zu diesem Zeitpunkt noch unlösbare – Aufgaben bevor, und es würde wahrscheinlich noch sehr lange dauern, bis er sein eigenes Stottern vollkommen wissenschaftlich sehen würde.
    Der Therapeut hatte der Gruppe am Morgen mitgeteilt, dass sie an diesem heutigen Donnerstag einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen würden: sie würden telefonieren!
    Fast allen, bis auf Sven, Claudia und vielleicht auch Paolo, machte diese Vorstellung sehr große Angst. Sie sollten telefonieren? Sie sollten die schlimmste Erfindung, die die Menschheit jemals hervorgebracht hatte, benutzen? Sie sollten eine ihrer tiefsten Überzeugungen verneinen, nämlich die, dass sie nicht fähig waren zu telefonieren? Die meisten konnten sich das nicht so richtig vorstellen. Denn in den Köp-fen der meisten Gruppenmitglieder hätte man, wenn man diese mal aufgeschraubt hätte, einen übergro-ßen, neuartigen Tumor gefunden. Der Name des Tumors: “Ichkanndasnicht”, oder auch “Ichtudas-nicht”.
    Jetzt saßen sie also in diesem Raum und starrten auf das Telefon in der Mitte das Raumes auf einem sechseckigen Tisch. Das Telefon besaß diese neue Schnellwahlfunktion, das heißt, man mußte nur wählen und im gleichen Moment klingelte es dann auch schon.
    “Wovor haben Sie beim Telefonieren am meisten Angst?”, fragte der Therapeut neugierig, obwohl er natürlich, nach jahrelanger Therapieerfahrung und auch Erfahrung mit sich selbst als Stotterer, genau wußte wovor. Tim wußte nicht so präzise, wovor er am meisten Angst hatte. Er versuchte, sich an eini-ge Mißerfolge mit dem heimischen Telefon zu erinnern.

  • as Telefon klingelte. Warum klingelte dieses scheiß Ding immer nur dann, wenn die Eltern nicht zu Hause waren? Tim wußte, dass dieses ekelhafte grüne Teil mit den 16 unnützen Knöpfen (er benutzte sie ja sowieso nie) ihn haßte. Es mußte ihn hassen, warum sollte es sonst klingeln? Alle Telefone hatten Tim gehaßt, vor allen Dingen dasjenige mit der altmodischen Wahlscheibe, dessen Klingeln man noch nicht leiser schalten konnte.
    Das Telefon klingelte, und Tim wußte nicht, was er tun sollte. Sollte er tatsächlich herangehen, und versuchen, seinen Namen zu nennen, während der Mensch am anderen Ende der Leitung entweder in den Hörer lachte oder Tim anmeckerte, er sollte schneller reden? Tim hatte das oft erlebt, und er hatte verständlicherweise auch keine Lust mehr auf dieses Erlebnis. Seit einigen Wochen hatte er einen neuen Weg gefunden, seinem Namen beim Telefonieren aus dem Weg zu gehen. Und zwar gab es ein Wort, das er meistens flüssig herausbringen konnte, und das war das Wort “Ja”. Dieses als Frage formuliert hatte ihm in den letzten Wochen einige Mißerfolge erspart, und somit war es für ihn wesentlich leichter, dem Telefonat entgegenzugehen. Er mußte einfach nur “Ja?” sagen, und damit war der Anfang des Gesprächs schon gemacht. Meistens wollte man ein Elternteil sprechen, dann konnte er mit einigen Synonymen und Überlegungspausen sagen: “Nein, äh, d, äh, meine E, äh, die sind nicht da.” Das hörte sich zwar arg bescheuert an, aber es war immer noch besser, als stottern zu müssen. Ganz schlimm war für Tim, dass er seinen Gesprächspartner nicht sehen konnte, und somit konnte er auch nicht sehen, ob der Gesprächspartner seine Stottern lustig fand oder nicht. Das ver-unsicherte ihn mehr, als wenn ihm jemand bei einem Stotterblock ins Gesicht lachte. Also versuchte er, besonders am Telefon immer flüssig zu reden. Wie er das tat? Wie schon gesagt, durch Umtau-schen der Wörter und durch gelegentliches Einschieben einer Überlegungspause. Man könnte jetzt sagen, das sei doch eine gute Sache, dann müßte ein Stotterer ja nie wieder stottern. Dass diese Überlegung allerdings ein wirklich schwacher Bindfaden ist, sollte Tim aber auch schon im nächsten Moment auf unangenehmste Weise klar werden.
    Er nahm all seinen Mut zusammen, hob den Telefonhörer ab und sagte:“Ja?”
    “Ja, hallo? Wer ist denn da?”
    Was sollte denn jetzt diese Frage?! Wie konnte der Mann am anderen Ende eine solche Frage stel-len? Er hatte doch die Nummer der Familie Habermann gewählt, also mußte er doch davon ausge-hen, dass ein Habermann drangehen würde. Was sollte Tim denn jetzt tun? Seine Brust zog sich vor Angst zusammen, und er konnte kaum noch atmen. Ein tonnenschwerer Stein drohte ihn zu ersticken.
    Das Blut der Angst lief seinen Rücken herab und fand einen Schleichweg durch die Jeans und an den Beinen hinunter. Tim stand dort in dem Wohnungsflur, seine Beine und Hände äfften die eines 100jährigen Opas nach. Leise hörten seine Ohren die Küchenuhr ticken.
    Ticktick, ticktick, ticktick.
    Sie tickte so unglaublich viele Male, der Sekundenzeiger war bestimmt schon oft vollständig herum-gelaufen, hatte die Minuten umkreist wie tanzende Indianer das Feuer.
    Und der Typ am anderen Ende wartete immer noch auf eine Antwort. Tim hatte große Lust, einfach den Hörer hinzuschmeißen und dem anderen nicht zu antworten. Aber was hätte er dann davon? Der andere würde noch mal anrufen und wieder fragen, wer am Apparat sei. Hektisch, wie ein gejagtes Tier, sah er sich im Wohnungsflur um. Alles war so beängstigend leer, so erbarmungslos kahl und einsam. Wenn doch Tims Mutter jetzt hier wäre, dann könnte er ihr den Hörer in die Hand drücken und wäre den Mann für alle Ewigkeiten los. Aber sie war nicht hier, sie war einkaufen. Warum war sie gerade jetzt einkaufen? Weil die Welt im Prinzip schlecht war.
    Weil der Mann am anderen Ende ihn haßte. Weil so etwas nur Tim passierte.
    Sowieso waren alle Anrufer seine Feinde, denn sie alle lachten ihn aus, zumindest glaubte Tim das. Und weil er das zu wissen glaubte, hatte er auch einen Haß auf diese Leute.
    “Wer ist denn da?”

  • Tim mußte irgendetwas sagen, aber er wußte genau, er würde es nicht können. Hoffnungslos holte er tief Luft und stieß sie im gleichen Moment wieder aus. Heraus kam dieses altvertraute, lächerliche Hecheln und Stöhnen, aber keineswegs hörte es sich nach “Tim” an.
    “Hallo? So sagen sie doch etwas?!”
    Was verdammt sollte er denn jetzt machen? Er schämte sich so sehr, er fühlte sich so klein und drek-kig. Ein weiteres Einatmen und Ausstoßen der Luft. Immer noch kein “Tim”! Der Mann wurde sehr ungeduldig.
    “Ist dort Habermann?”, fragte er nach einer ganzen Zeit. Diese Frage kam gerade rechtzeitig. Jetzt mußte er sie nur noch bestätigen.
    “Ja.”, antwortete er schnell. Ein tolles Wort, dieses ‘Ja’.
    “Ist der Vater oder die Mutter da?”“N, äh, äh...” und so weiter.
    “Nein? Kannst du ihnen etwas ausrichten?”“Ja.”
    “Sagst du ihnen, sie sollen mich heute Abend noch zurückrufen? Ich heiße Rahlfs, sie wissen schon bescheid.”
    “Ja.”“Willst du es lieber aufschreiben?”
    Hielt der Mann ihn für dumm? Er konnte sich doch wohl diesen einfachen Namen merken!
    “Hole dir am besten mal was zu schreiben.” Er dachte wirklich, dass Tim sich das nicht merken könnte. Dieser alte Dreckskerl!
    “Mmm.”, antwortete Tim. Er haßte diesen Mann, auch er war sein Feind. Aber er wußte genau, wer in diesem Moment eigentlich sein richtiger Feind war: er selbst. Er selbst war es schließlich, der noch nicht einmal seinen eigenen Namen sagen konnte. Der noch nicht einmal in der Lage war, ande-ren mitzuteilen, wer er war, und ob seine Eltern da waren oder nicht. Er war der Hassenswerte.
    “Hast du’s aufgeschrieben?”“Ja.”, log Tim.
    “Also dann, tschüs.” Der Mann legte auf. Tim hörte nichts mehr.
    Jetzt war er mit sich selbst alleine. Er taumelte benommen ins Wohnzimmer, setzte sich hin, und seine Hände zitterten. Die Uhr tickte immer noch. Schon komisch, wie laut man ein so leises Geräusch hören konnte. Einen Moment später ließ er den Kopf nach hinten fallen, und brach in ein bitterliches Gewinsel aus.
    “Warum ich? Warum ich? Warum?”, wiederholte er immer wieder. So saß er dort, in sich zusam-mengesunken und in Selbsthaß aufgehend. Er war damals 15, und er hatte schon länger das Gefühl, dass diese Welt nicht die richtige für ihn war, oder besser gesagt, dass er nicht der richtige für diese Welt war, denn alles schlechte bezog er zumeist auf sich.
    Es sah schon komisch aus, wie dieser 15jährige in dem Wohnzimmer saß. Ein junger Mann, der ei-gentlich noch unbekümmert und optimistisch leben müßte, der noch lange davon entfernt war, den Ernst des Lebens zu erkennen. Aber dieser junge Mann hatte vor einigen Sekunden einmal mehr in seinem Dasein den ernstesten Ernst, den es überhaupt gab, erlebt. Viele Menschen, die vom Ernst des Lebens schwafeln, meinen damit vielleicht die Anstrengung ihrer Arbeit und die Gewißheit, arbeiten zu müssen, damit sie überleben oder sich irgendeinen subjektiv gesehen wichtigen Luxus leisten kön-nen. Ohne Zweifel, ernst genug. Dass es aber für einen Heranwachsenden noch wesentlich ernster zugehen kann, davon wollen diese Leute, die ja schon so weise und erfahren sind (und die vor allen Dingen wissen, was der Ernst des Lebens ist und was nicht), meistens nichts hören. Sie tun das als pubertären Kram ab, der schon irgendwann wieder vorbei geht.
    Tim weinte sehr lange, womit er seine junge Katze weckte. Diese schüttelte sich einmal kräftig und eilte dann zu ihrem Menschen herüber, um diesen zu trösten.
    So wird es zumindest immer in irgendwelchen Tierfilmen interpretiert, die wahrscheinlichere Mög-lichkeit ist aber wohl die, dass das Tier sich einfach freute, Gesellschaft zu haben und diese Annähe-rung an einen ihrer ‘Familienmitglieder’ aus purem Eigennutz vollzog. Aber egal, was die Beweg-gründe für dieses Handeln waren, für Tim machte es keinen Unterschied, und auch er freute sich über die Nähe eines anderen, ihm gut gesonnenen Wesens. Die Katze setzte sich auf seinen Schoß und vergrub ihre Krallen in Tims Wollpulli. Tim legte seine zitternde Hand auf ihren Kopf und war sehr dankbar, dass es dieses Tier gab. Dieses Tier, diese kleine Katze, die andere Leute mit der Tageszei-tung verjagt hätten, hatte ihm schon sehr oft das Gefühl gegeben, dass alles doch gar nicht so ganz schlimm war. Es war der Katze egal, wie Tim sich ausdrückte, und sie hatte alle Zeit der Welt, ihm zuzuhören. Sie übte keinen Zeitdruck auf ihn aus, und sie lachte auch nicht über ihn.
    Er liebte dieses Tier, und es war, von seinen Eltern und seinem Bruder einmal abgesehen, der einzig wahre Freund auf der für ihn unerträglich beschissenen Welt.

  • Natürlich darf man nicht vergessen, denn das wäre eine Schande, dass es auch durchaus Momente gab, in denen Tims Welt ihm nicht so schrecklich vorgekommen war. Es war keineswegs so, dass ständig nur negative Gefühle in seinem Kopf herumschwirrten, manchmal war dieser Tumor sogar sehr klein und machte sich wochenlang nicht bemerkbar. Aber heute war er sehr groß, und dann konnte er auch fast schon tödlich sein.


    “Wovor haben sie am meisten Angst beim Telefonieren?” Diese Frage schwebte in Tims Kopf umher, und er fand keine Antwort auf diese Frage. Wovor hatte er in diesem Telefonat damals am meisten Angst gehabt? Vorm Stottern, ohne Zweifel, aber vorm Stottern hatte er auch in anderen Situationen sehr viel Angst. Was machte das Telefonieren so einzigartig bedrückend? Vielleicht die Tatsache, dass man durch das Telefonieren, bzw. durch die Tatsache, dass es das Telefon gab, nie vollkommen sicher vorm Reden war. Man mußte immer darauf gefaßt sein, dass plötzlich das Telefon klingelte, und so konnte man sich nie völlig entspannen. Aber da mußte es noch mehr geben, das konnte doch nicht alles sein. Wenn das alles gewesen wäre, wäre nicht jedes Telefonat mit solchen Qualen verbunden gewesen. Ein anderes Ereignis am Telefon fiel ihm ein.


    Werner anrufen! Werner war Tims Trainingskollege, der ihn Montag und Donnerstag immer zum Training mitnahm, das im Nachbarort stattfand. Werner war schon ein netter Vertreter, Tim mochte ihn sehr. Er war vielleicht Ende 30 oder Anfang 40. Tim war mit 15 Jahren einem Ju-Jutsu-Verein beigetreten, und seitdem fuhr er meistens mit Werner zusammen dorthin. Aber auch hier galt immer die Regel: nie stottern. Tim, egal, was du machst, du darfst nie stottern!, betete er oft in seinem Tu-mor-Gehirn herunter. Tim sagte damals immer zu seiner Mutter, dass er, wenn er auch nur einmal stottern würde, sofort aus dem Verein austreten würde. Nie hatte jemand aus dem Verein erfahren, dass Tim stotterte, und dabei sollte es auch bleiben. Dass der bisher erfolgreiche Versuch, immer flüssig zu reden, einen enormen Druck auf Tim ausübte, dürfte klar sein, aber Tim bekam diesen Druck nur in der Form mit, dass er immer weniger Lust hatte, zum Training zu gehen, obwohl er große Fortschritte machte und schon kurz vor seiner Orangegurt-Prüfung stand.
    An diesem Tag hatte Tim ebenfalls keine Lust, zum Training mitzufahren. Der Vorwand, zu Hause zu bleiben, war damals eine bevorstehende Mathearbeit, aber Tim wußte, er würde diese Arbeit sowieso nicht schaffen. Also hätte er auch mitfahren können. Der einzige Grund nicht mitzufahren war natür-lich der, dass diese Maske, die Tim immerhin schon seit zwei Jahren in dem Verein aufsetzte, höchst-wahrscheinlich irgendwann nicht mehr so gut funktionieren könnte, und dass irgendjemand aus die-sem Verein sein Sprachproblem, seine alte beschissene Behinderung, die ihn noch eines Tages auf-fressen würde, mitbekommen würde. Aber Tim wollte nicht wahrhaben, dass er davor flüchtete, also schob er es auf diese Mathearbeit, für die zu lernen keinen Zweck hatte.
    Jetzt gab es nur ein Problem: er mußte Werner anrufen, um ihm zu sagen, dass er Tim heute nicht abzuholen brauchte. Und selber anrufen war noch um einige Einheiten schwerer als den Hörer abzu-nehmen, wenn das Telefon klingelte. Denn wenn man selber anrief, mußte man seinen Namen sagen und konnte nicht nur einfach ‘ja’ sagen. Außerdem hatte man dann einen ganzen Text aufzusagen, denn man wollte ja etwas von demjenigen, den man anrief. So müßte Tim in dieser Situation zum Beispiel sagen: “Hallo, Tim Habermann hier, ist der Werner da?” Das war der erste Satz. Falls Werner nicht da wäre, müßte er sagen: “Können Sie ihm sagen, dass ich heute nicht mitfahre zum Training.” Das wäre der zweite Satz. “Ich fahre dann nächste Woche wieder mit.” Der dritte Satz. “Danke, tschüs.” Der vierte Satz. Insgesamt 26 Möglichkeiten, bei einem Wort nicht weiterzukommen und ein neues Versagenserlebnis hinter sich zu bringen. Dass der Moment des Stotterns allerdings kein Versagenserlebnis war sondern eher ein Schritt in die Selbstakzeptanz, das wußte Tim nicht, und hätte er es damals schon gesagt bekommen, er hätte dem Menschen, der ihm so etwas Abfälliges ge-sagt hätte, nicht geglaubt.
    Tim stand also erneut in dem Wohnungsflur und überlegte krampfhaft, ob er das Telefon aus dem Fenster schmeißen sollte, den Anruf wagen sollte, oder einfach doch mitfahren sollte. Aber was sollte dann aus dieser heiligen Mathearbeit werden? Das ging also nicht. Die erste Möglichkeit war auch nicht realistisch, denn Werner war schon so entgegenkommend und nahm Tim immer mit, und ihn dann einfach zu versetzen, wäre verdammt unhöflich. Also mußte er anrufen. Er mußte riskieren, bei einem dieser 26 Wörter hängenzubleiben. Was sollte er tun, wenn es tatsächlich so kommen sollte?

  • Die nasse Hand seines triefenden Körpers faßte den Hörer und führte ihn an das pochende Ohr. Tuuuut. Er wählte die erste Zahl, die zweite, die dritte. Angst, vorzeitige Scham, der Wunsch, einmal flüssig reden zu können, ohne 1000 Umwege zu gehen. Die vierte Zahl, die fünfte. Tuut, tuut, tuut.
    “Stark?” Tim erschrak. Da war wirklich Werners Frau am anderen Ende, und sie wartete darauf, dass irgendjemand irgendetwas sagte. Aber, was ein Zufall, Tim konnte nichts sagen, denn seine Stimmbänder existierten in dem Moment nicht mehr. Die Angst, die sich schon den ganzen Tag in ihm aufgebaut hatte (vor diesem einen lächerlichen Telefongespräch mit einer erwachsenen Person, die wahrscheinlich gar nicht negativ reagieren würde), hatte sich in eine imaginäre Schere verwandelt, die mal eben schnell Tims Stimmbänder in der Mitte durchgetrennt hatte. Tim konnte nichts mehr sagen. Er hechelte in gewohnte Manier wie ein Geisteskranker in diesen scheiß Telefonhörer. Sein Körper bog sich mal nach vorn, mal nach hinten, seine andere Hand griff in die Luft, als wollte sie eine Fliege fangen. Sein Füße übten ein paar Tanzschritte, sein Brustkorb wurde mal größer, mal kleiner. Alles in allem ein eher peinliches, aber arg mitleiderregendes Bild. Noch einmal: was ur-sprünglich mal ein Stottern gewesen war, war jetzt, anderthalb Jahrzehnte später, eine Reaktion auf das Stottern, die man eher mit spastischen Lähmungen vergleichen konnte, als dass man es als Laie als Stottern identifiziert hätte.
    “Hallo?” Werners Frau konnte niemanden hören, daher fragte sie, was verständlich war, ob über-haupt jemand am anderen Ende wäre.
    “Hallo?” Tim wurde schwarz vor Augen, und dann tat er etwas, was er schon längst hätte tun sollen: er legte auf. Die Leitung war tot. Er mußte nicht mehr stottern. Dafür fühlte er sich jetzt um so mehr als Versager, denn er hatte sein Ziel nicht erreicht. Mal wieder nicht erreicht. Und er hatte wieder dieses Gefühl, dass es an ihm lag, dass er nichts auf die Reihe bekam, dass er wahrscheinlich ewig ein armes, behindertes, kleines Arschloch bliebe und nie irgendeine Chance im Leben erhielt.
    In diesem verfluchten Leben.
    Tränen, die den wahren Ernst des Lebens verrieten, quollen aus seinen erstarrten Augen, und sie waren schwerer und damit schneller als der Schweiß auf Tims Rücken.
    Da schloß seine Mutter die Wohnungstür auf - sie war wieder Einkaufen gewesen und erblickte ihren armen Sohn, um den sie sich sehr sorgte. Wie er dort stand und weinte! Das konnte nichts Gutes hei-ßen. Noch ehe sie ihn fragen konnte, was denn überhaupt los sei, überfiel Tim sie schon mit diesem Versagenserlebnis.
    “Kannst du nicht bei Werner anrufen und ihm sagen, dass ich krank sei und du mich abmelden woll-test?”, brachte Tim schluchzend und langsam hervor. Und da Tims Mutter so unendlich viel Mitleid mit ihrem jüngsten Sohn hatte und ihn so gut es ging beschützen und ihm helfen wollte, erfüllte sie ihm den Wunsch und meldete ihn bei Werner ab. Wieder einmal hatte sie ihm einen riesengroßen Stein von der Brust genommen, und er war ihr damals sehr dankbar gewesen.

  • Also noch einmal die Frage: “Wovor haben sie beim Telefonieren am meisten Angst?” Was war der Grund, weshalb er den Hörer aufgelegt hatte? Tim konnte es nicht wissen, denn dieser Grund war so eine Art Lebenserkenntnis, bestehend aus mehreren Nebengründen, die er vielleicht eines Tages einmal richtig begreifen würde. Aber einer der tiefsten Gründe war wohl, wie in allen anderen Lebensbereichen, denen Tim regelmäßig ausgesetzt war und vor denen er Angst hatte, dass der Gesprächspartner Tims Angst bestätigte. Doch das bedeutete eine Sackgasse, denn wenn man Angst davor hat, dass eine andere Angst bestätigt wird, dann handelt es sich eine Endlosschleife, die sich immer wieder von selber aufruft und zwar ohne, dass der Gesprächspartner von außen mitwirkt. Tim hatte Angst davor, dass sein Selbsthaß, den er sich aufgebaut hatte, von anderen bekräftigt würde, indem sie entweder auflegten, ihn anschnauzten oder ihn auslachten. Weil er diese Angst hatte, hatte er auch Angst davor, dass die Angst vor seiner Versageridentifikation berechtigt war.
    Am Anfang, sozusagen am Tag Null, hatte das damals noch geringe Stotterproblem gestanden und dar-auf gewartet, bemerkt zu werden. Die Angst war dazugekommen, die sich dann irgendwie und irgend-wann dupliziert und eines Tages eine Eigendynamik entwickelt hatte, die Tim fast in den Wahnsinn getrieben hätte.
    Ähnlich wie in dieser einen Geschichte, in der jemand den jungen, noch nicht besonders routinierten, Vogel fragte, wieso er fliegen konnte, und dieser von nun an darüber nachdachte und es irgendwann dann nicht mehr konnte, hatte sich in Tims Psyche die Grundweisheit breitgemacht, dass er nicht ver-nünftig sprechen konnte. Dazu waren noch einige Schlüsselerlebnisse gekommen, die diese Auffassung noch verstärkt hatten:
    Er hatte als kleines Schulkind nie beim Fangen mitmachen dürfen, beim Fußball hatte er immer im Tor stehen müssen. Der Name Klassenclown war ihm früh geläufig gewesen. Alles nur, weil er langsamer gesprochen hatte.
    Das erste Mädchen, in das Tim sich verliebt hatte (am Ende der sechsten Klasse auf dem Gymnasium), hatte irgendwann zu ihm gesagt, sie wollte mit Behinderten nichts zu tun haben. Das war Tim durchaus noch bewußt. Und er wußte auch, dass er nicht Schuld war an dieser ganzen Geschichte sondern dass ihn die anderen in sein Versagen hineinmanövriert hatten.

  • Doch Tim lebte jetzt, in seinem Dasein als Jugendlicher, und er mußte in der Gegenwart etwas gegen seine Angst tun und nicht in der Vergangenheit. Also zurück zur Frage: “Wovor haben sie beim Telefo-nieren am meisten Angst?”
    Irgendjemand aus der Gruppe beantwortete schließlich die Frage, die der Therapeut vor ungefähr fünf Minuten gestellt hatte:
    “Davor, dass jemand auflegt.”
    “Gut.”, sagte der Therapeut auf eine sehr coole Art und Weise. Und noch cooler nahm er den Telefon-hörer in die Hand und sagte mit der entschlossensten Miene, die man sich überhaupt vorstellen kann:
    “Dann bringen wir die Menschen mal dazu aufzulegen.”
    Er ließ den Zeigefinger seiner freien Hand über eine Seite der Gelben Seiten gleiten, blieb irgendwann stehen und wählte die Nummer, auf der sein Finger zeigte.
    Totenstill war es in dem Raum, selbst die Mitarbeiterinnen, die sowas schon oft miterlebt hatten, und auch Gabi hielten den Atem an. Nach ein paar Sekunden hob jemand ab, und der Therapeut sagte:
    “Gugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugu...” Das sagte er unge-fähr drei Minuten lang. Er saß da ganz lässig in seinem Chefsessel und hatte wirklich die Absicht, den anderen zum Auflegen zu bringen. Aber der andere legte wohl nicht auf sondern wartete vergeblich darauf, dass der Therapeut voran kam. Als der Therapeut das “Guten Tag” gesagt hatte, machte er noch bei einigen Wörtern so weiter und nach ungefähr 10 Minuten hatte er folgenden Satz zum Besten gegeben: “Guten Tag, Rawe hier, wie lange haben sie heute geöffnet?” Kurze Pause, dann:
    “Dadadadadadadadadadadada...” Eine Ewigkeit. “Danke, tschüs.”
    In dem Raum waren an diesem Tag ungefähr 15 Leute, und 14 von ihnen waren baff. Wie konnte dieser Mann in so einer Seelenruhe so lange an einem Wort hängenbleiben, ohne irgendein Anzeichen von Scham zu zeigen? Der Therapeut hatte sich nicht geschämt, und er kannte ja auch (und das schon seit über 30 Jahren) die gefährlichen Situationen im Leben eines Stotterers. Er war ja noch immer einer von ihnen, da kam es den anderen, denen schon beim bloßen Zuhören schlecht wurde, sehr komisch vor, dass er kein einziges Mal die Kontrolle über sich verlor oder nervös am Telefonkabel spielte. In diesem Moment wirkte dieser Mann sehr überlegen und souverän, wie eine Art Übermensch. Restlos alle in diesem Raum wünschten sich, genauso selbstsicher auftreten zu können wie er.
    “Ja.”, sagte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, “Das war doch gar nicht so schlimm. Und jetzt teilen wir uns in drei Gruppen auf, und jeder von ihnen wird heute ganz viele Telefonate in dieser Form führen, wenn auch mit einer anderen Art zu stottern.”
    Dieser Ausspruch des Therapeuten klang dermaßen endgültig und bestimmt, dass Tim zuerst gar nicht daran dachte, dass er eigentlich keine Lust hatte, die Leute zum Auflegen zu bringen. Noch immer war er so beeindruckt von der Selbstsicherheit des Therapeuten, es kam ihm einfach noch nicht in den Sinn, dass er selbst nicht im geringsten so selbstsicher war wie sein Vorbild.
    “Am besten machen wir das so, dass diejenigen, die am meisten Angst vor dem Telefonieren haben, mit mir zusammen eine Gruppe bilden. Die anderen gehen mit den Mitarbeiterinnen mit. Wer von ihnen hat wirklich richtig extreme Angst?”
    Jochen Worrenfeld, Mark Weila und Tim meldeten sich zaghaft, und somit war diese erste Gruppe ge-bildet. Die drei gingen mit Herrn Rawe zusammen hoch in den zweiten Stock, in dem Herr Rawe ein kleines Arbeitszimmer hatte. Der Therapeut schloß die Tür auf, und als erstes bemerkte Tim, dass im-mer noch die gleiche Tischdecke auf dem Tisch lag, die dort schon vor einem halben Jahr bei dem Be-ratungsgespräch für Farbe in dem sonst unpersönlich eingerichtetem Zimmer gesorgt hatte. Auf dem Waschbecken in der linken Ecke des Zimmers standen mehrere Kaffeetassen, die der Therapeut dort anscheinend zu horten pflegte. Der nächste Blickfang für Tim war das Telefon auf dem Tisch, überall standen Telefone, wie konnte Herr Rawe diese ständige Bedrohung nur aushalten?.
    Das Telefon stand da ganz scheinheilig in der Gegend herum, aber Tim kam es so vor, als grinste es ihn an. Komm doch her, Kleiner, dann erlebst du wieder, was versagen heißt. Und plötzlich fiel Tim wie-der ein, dass das einfach nicht ging mit dem Telefonieren. Er konnte es nicht, er würde es niemals kön-nen, und der Tumor würde immer größer werden. Er würde sich wehren gegen diese Therapiemaßnah-me, er würde mal wieder weglaufen. War es denn so verdammt schlimm, ein Feigling zu sein? War denn nicht jeder in einigen Lebenssituationen ein Feigling?
    Es ging einfach nicht, er konnte nicht telefonieren. Nervös sah er sich zu seinen Leidensgenossen um, und auch sie wirkten nicht gerade überzeugt von dem, was sie gleich tun sollten. Tim erschien es so, als könnte er mit ihnen geistigen Kontakt aufnehmen. Laßt uns doch einfach wieder herausgehen. Laßt uns diesen wunderschönen Sommer genießen und unseren Sorgen entfliehen. Wollen wir gehen? Aber anscheinend hatte er doch keine Gedankenübertragung fertiggebracht, denn auf die Bitte des Therapeu-ten setzten sie sich hin, rund um das Telefon, dieses gemeine, hinterhältige Ding. Was sollte Tim denn jetzt tun? Er konnte doch nicht als einziger den Raum und somit auch die Therapie verlassen. Das ist doch ein ganz mieser Gruppenzwang hier, verdammt noch mal.
    Ein oft zitierter Satz fiel ihm plötzlich ein: Wenn Jochen und Mark von einer Brücke springen, springst du auch hinterher oder was? Und es sah ganz so aus, als würde er hinterherspringen, wenn er sich auch an diesen Tisch setzte. Wohin würde er springen? In den Tod? Ins Verderben? In die Ewige Bekenntnis seines Versagerdaseins?
    Doch schließlich beugte er sich doch diesem Gruppenzwang, denn in der Gruppe zu versagen, war noch schlimmer als am Telefon. Er wollte einfach nicht der Außenseiter der Gruppe sein. Wenn er bisher in seinem Leben auch immer ein Außenseiterrolle eingenommen hatte, heute wollte er das nicht.

  • Nicht jetzt und nicht hier.
    Auch er setzte sich hin, aber wohl war ihm dabei bestimmt nicht. Ihm kam es vor, als sei er ein Einbei-niger, der fünf Minuten vor seinem ersten Profispiel bei Borussia Dortmund in der Umkleidekabine darüber nachdachte, wie die Hooligans in der Südtribüne wohl reagieren würden, wenn sie dem neuen Mittelstürmer dabei zusehen würden, wie er sich bei dem Versuch zu rennen aufs Maul legen würde.
    “So.”, sagte der Therapeut in einem spannenden Tonfall, “dann fangen wir mal an.” Dabei holte er die Gelben Seiten, die in diesem Haus bestimmt 300mal zu finden waren, aus dem Regal, schlug irgendeine Seite auf und suchte wie vorhin eine passende Telefonnummer.
    “Wer möchte anfangen?”
    “Ich möchte anfangen.”, sagte - oder flüsterte - Mark Weila schwer hörbar. Mark Weila war bestimmt der ärmste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen konnte, und selbst Tims Sorgen waren gegen die seinigen nichts. Er konnte einem wirklich leid tun mit seiner Familie, seinem Stottern und seiner Seele, und Tim war sich sicher, dass Mark garantiert noch mehr Angst vor dem ersten Schritt nach vorne hatte als Tim.
    Tim war sich sicher, dass Mark, wenn sich nicht grundlegend etwas ändern würde, eines Tages das tun würde, woran Tim vor der Therapie so oft gedacht hatte: Ende machen.
    Der Therapeut drückte ihm das Telefon in die Hand, und Mark nahm es zitternd entgegen. Er traute sich nicht, irgendjemanden anzuschauen, sein bleiches Gesicht war auf den Tisch gerichtet.
    “Herr Weila, sie wissen, was sie zu tun haben?”, fragte Herr Rawe.“Nein?”
    “Sie wählen gleich die Nummer, die ich ihnen vorlesen werde, und dann werden sie möglichst lange an dem einen Satz stottern, den ich auch vorhin sagte.”
    “Wie, äh, wie, äh, wie, äh, war denn dieser Satz noch mal?”
    “Das wissen sie doch bestimmt noch, oder nicht?”“Nein.”, log Mark.
    “Also, der Satz hieß: ‘Wie lange haben sie heute geöffnet?”“Ach so.”
    “Sind sie bereit?”“Äh, ja.”“Also dann: 7-0-3-2-5-4-3.”
    Mark wählte jede Nummer, als sei sie ein weiterer Nagel, den er in seinen eigenen Sarg hämmerte.
    Und plötzlich verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck, als am anderen Ende jemand heranging. Wieder hatte Tim das Gefühl, als könne er Mark Gedanken lesen, die besagten, dass er es sich mit dem Telefo-nieren doch noch anders überlegt hatte. Und diesmal hatte Tim anscheinend tatsächlich richtig geraten, denn nichts, absolut nichts drang aus Mark Mund. Er riß seine Lippen auseinander, atmete wie ein Bla-sebalg, aber all das half ihm nicht weiter. Tim war sehr, sehr aufgeregt, und am liebsten hätte er stell-vertretend für Mark auf den schwarzen Hebel gedrückt,



    1. Kampfprinzip im Wing Tsun: Ist der Weg frei, stoße vor!

  • Sorry, Björn, dass ich mich mal einmische.


    An den Beech:
    Das Gesetz hierzu ist: Ist der Weg nicht frei, bleib kleben.


    Klingt doch logisch, oder. Das bedeutet, wenn Du, weil sich Dir ein Hindernis in den Weg stellt, nicht weitergehen kannst, dann bleib dran, halte Kontakt zu der Situation und habe Geduld, bis sich der Weg wieder öffnet. (Das tut er immer. Die alten Griechen sagten: Nichts ist beständiger als der Wandel.)


    Ich hoffe, ich habe nichts verwechselt. Was Wing Tsun ist und woher es kommt und was das mit dem Stottern zu tun hat, kann Dir der Björn sicher besser erklären.


    :) Bis dann
    Hans

  • Hallo Beech,


    ich musste neulich schon feststellen, dass der Text aus "Gruppenthe-te-therapie nicht in voller Länge in das Forum übernommen wurde. Woran liegt das?


    Jedenfalls, das Kampfprinzip Nr.1 sollte sozusagen als Abschluss, als Moral das Kapitels dienen und gehört gar nicht zu der Geschichte dazu.


    Ich arbeite gerade an meinem zweiten Buch, in dem ich an meinem eigenen Beispiel darstelle, was die chinesiche Kampfkunst Wing Tsun mit persönlichen Problemen zu tun haben kann.


    Die Kampfprinzipien dieser Kampfkunst sind:


    1. Ist der Weg frei, stoße vor
    2. Ist der Weg nicht frei, bleibe kleben
    3. Ist der Gegner stärker, gib nach!
    4. Zieht der Gegner sich zurück, folge ihm.


    Es gibt auch noch vier Kraftprinzipien:


    1. Befreie Dich von Deiner eigenen Kraft.
    2. Befreie Dich von der Kraft Deines Gegners.
    3. Verwende die Kraft des Gegners gegen ihn.
    4. Füge Deine eigene (kleine) Kraft hinzu.



    Du kannst diese Prinzipien auf alles im Leben übertragen, wofür Du eine Lösung brauchst. Stelle Dir vor, Dein Leben ist ein Segelschiff. Du möchtest nach vorne fahren, von vorne aber kommt ein starker Wind. Es macht überhaupt keinen Sinn, trotzdem gegen den Wind fahren zu wollen. Die Lösung: kreuzen. Das Segel so in den Wind stellen, dass er daran vorbeipfeift und Dein Schiff dennoch immer weiter nach vorne kommt. Genauso funktioniert Wing Tsun: wenn der Wind von vorne stärker ist, einfach den Winkel verändern und von da aus weiter Richtung Ziel!


    Vielleicht möchtest Du ja mal mein Buch lesen (und auch jemand anderes)


    Liebe Grüße,
    Björn.