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Die Stotterertherapie als System gesehen
Es ist schon überwältigend zu sehen, welche große Wirkung eine Theorie haben kann. Wenn man es schafft, eine schlüssige Theorie vollständig in die Praxis zu übertragen, kommt man dem Schluss immer näher, dass „es wirklich Geheimnisse gar nicht gibt“. (Kernspecht, Keith: Vom Zweikampf)
Ein Soziologe namens Niklas Luhmann machte sich im letzten Jahrhundert daran, zu erklären, warum die „Gesellschaft“ die Summe von Systemen sei. Er konstruierte die „Systemtheorie“, die auf den ersten Blick arg kompliziert zu sein scheint. Da der erste Blick ja oft entscheidend ist, meine Beobachtung aber für die Therapie von Stotterern von großer Bedeutung sein kann, beginne ich nun mit der viel besser eingängigen Praxis, um die es mir im Grunde sowieso geht.
Mit etwa einer Million Menschen in diesem Land teile ich ein Phänomen, das es schon viele Jahre länger gibt als die Systemtheorie: nämlich das Stottern. Auch wenn es viele Therapieansätze dafür gibt, ist das Problem noch nicht tief genug erforscht worden, als dass es „die“ Therapie dafür gäbe. Ganz im Gegenteil ist es eher so, dass die meisten Stotterer eine Therapie nach der anderen ausprobieren und ab einem gewissen Lebensalter resignieren und vorgeben, sie akzeptierten diesen Zustand. Es könnte stimmen, dass sie es wirklich akzeptieren, allerdings spricht eines dagegen: sie stottern immer noch!
Wenn ich tatsächlich etwas akzeptiere, warum soll ich mich dann immer noch dagegen wehren? Sieht man sich aber einen Stotterer an, der sein Stottern angeblich akzeptiert, so stellt man fest, dass er versucht, seine Wörter mit Kraft herauszubekommen. In dem Moment des Sprechens kämpft er mehr oder minder stark mit seinem Stottern, er verwendet Muskelkraft, um sein Stottern zu besiegen.
Würde er es wirklich akzeptieren, bräuchte er diese Muskelkraft nicht mehr aufzubringen. Denn dann könnte er sich bildlich gesprochen mit seinem Stottern zusammensetzen und ihm sagen: „Hör mal zu, ich weiß, dass du dich hier wohl fühlst. Aber wenn du schon da bleibst, dann lass uns doch einfach einen Deal machen: du darfst bei mir bleiben, dafür musst du mir aber erlauben, so locker zu sprechen, wie ich das will.“
Das, was einen Stotterer daran hindert, sein Stottern so wie es ist hinzunehmen, ist die Tatsache, dass es sich besonders dann gerne zeigt, wenn der Stotterer unbedingt sprechen möchte, wenn er also an das Sprechen denkt. Viele Stotterer haben in den Momenten die größten Probleme, in denen sie zum Beispiel ein Referat halten oder eine mündliche Prüfung ablegen müssen. Denn dann denken sie daran, dass vom Sprechen alles abhängt. Aber war es denn nicht schon immer so, dass besonders in solchen Momenten das Versagen vor der Tür stand? In dem Moment des über das Sprechen Nachdenkens melden sich genau diese alten Erinnerungen in einer so großen Intensität, dass die Erinnerungen schließlich um eine weitere ergänzt werden: nämlich um diejenige, die gerade in der Produktion ist.
Wenn ich als Stotterer darüber nachdenke, dass ich gleich sprechen muss, und gleichzeitig die alten Versagenserlebnisse wieder wach werden, die mich in Angst vor einem weiteren Versagenserlebnis versetzen und schließlich das erneute Scheitern begründen, dann entsteht etwas, das sich „binärer Code“ nennt. Der Sieg (ein erfolgreiches Referat) steht der Niederlage (vollkommener sprachlicher Kontrollverlust) in einer krassen Weise gegenüber. Entweder ich halte dieses Referat fließend oder ich stürze ab in das Stottern, dass in einer solchen Situation ganz bestimmt nicht harmlos sein wird. Meine Gedanken drehen sich nur noch um diesen binären Code: Sprechen/Stottern, Sieg/Niederlage, Bestanden/Nicht bestanden etc. Meine Gedanken kreisen, genau. Sie schließen diese innere Diskussion ein. Und all das, was meine Gedanken umgibt, ist Chaos. Meine gesamte Umwelt besteht nur noch aus einem Durcheinander. Hier raschelt jemand mit seinem Papier, da niest jemand, dort wird jemand ungeduldig, draußen fährt ein Auto vorbei, ein Handy klingelt.
Lasse ich dieses Chaos in mich hinein, lasse ich es mich kontrollieren und in meine Gedanken eintreten, dann ist es wahrscheinlich, dass der binäre Code Sieg/Niederlage auseinander fällt: der Teil der Niederlage in den Gedanken wird so stark, dass er die Gedanken an den Sieg vollkommen ausschließt. Die Möglichkeit, siegen zu können, wird gar nicht mehr in Betracht gezogen, nur noch die Niederlage ist Thema. Und das Chaos, das gerade noch Umwelt war, nimmt mich nun vollends ein. Chaos ist außen, Chaos ist innen, Chaos ist überall. Die Umwelt verschluckt meine Gedanken, wie das Weltall den Raum eines erloschenen Sterns einnimmt. Und dann fange ich an, mich zu wehren. Ich möchte raus aus diesem Zustand und merke nicht, dass es gar kein „Raus“ mehr gibt. Wenn alles in mir und um mich herum Chaos ist, dann sitze ich in ihm fest wie ein Fahrstuhl-Phobiker in einem stehen gebliebenen Fahrstuhl. Ich habe verloren.